Als zu dem im Folgenden besprochenen Titel noch eine zweite Rezension bei der Redaktion einging, war die erste Reaktion: Oh, da war ein anderer Autor leider schneller. Doch das war vor dem Lesen beider Texte.
Danach stellte sich die Frage anders: Warum eigentlich leider?
Beide Besprecher setzen zwar durchaus vergleichbare Akzente, haben jedoch dem Buche jeweils recht Unterschiedliches entnommen. Unserem Publikum die Besprechungen gemeinsam anzubieten, erscheint daher durchaus reizvoll.
Die Redaktion
Die Schriftstellerin Dagmar von Gersdorff widmet sich in ihren Biografien zumeist Frauen an der Seite von berühmten Männern – von Caroline von Humboldt, der Gattin des Universalgelehrten, über Julia Mann, der Mutter der beiden Söhne Heinrich und Thomas, bis zu Fontanes Tochter Mete. Außerdem hat sie in mehreren Buchprojekten das weibliche Umfeld von Johann Wolfgang von Goethe beleuchtet: Goethes Mutter, Lili Schönemann, Marianne von Willemer oder Ulrike von Levetzow. Auch die Lebenswege von Goethes Enkeln Walther, Wolfgang und Alma wurden von ihr nachgezeichnet.
Nun hat sich die Autorin dem Schicksal von Goethes Schwiegertochter Ottilie von Goethe (1796–1872) gewidmet. Aus einer schleswig-holsteinischen Adelsfamilie stammend wurde sie 1817 die Gattin von Goethes Sohn August, obwohl ihre adelsstolzen Verwandten die Ehe mit dem unehelichen Sohn des Dichterfürsten nicht billigten. Sie zog in das berühmte Weimarer Haus am Frauenplan ein; doch trotz dreier Kinder (Walther, Wolfgang und Alma) erwies sich die Ehe mit August als problematisch. Während August immer häufiger in den Wirtshäusern Weimars zu finden war, stürzte sich die kapriziöse Ottilie in wechselnde Liebschaften.
Der alternde Schwiegervater sah über diese Affären hinweg; Heiterkeit, Intelligenz und Hilfsbereitschaft Ottilies waren für ihn ein Lebenselixier, und die Sohnesgattin sorgte überdies für Geselligkeit mit berühmten und bedeutenden Künstlern und Wissenschaftlern. Mit Ottilie unternahm Goethe Fahrten nach Tiefurt, Belvedere, Dornburg, Berka oder Jena; sprach über neue Gedichte, die „Marienbader Elegie“. Auch „Faust Zweiter Teil“ hatte sie gegengelesen. 1829 hatte Ottilie die Zeitschrift Chaos gegründet, in der auch ihr Schwiegervater veröffentlichte. Gegenüber Eckermann äußerte sich Goethe anerkennend über Ottilies Unternehmen: „Es ist doch hübsch von meiner Tochter, und man muß sie loben und es ihr Dank wissen, daß sie das höchst originelle Journal zu Stande gebracht.“ Außerdem genoss Goethe die Lebendigkeit und Fröhlichkeit seiner Enkel.
Nach Augusts frühem Tod 1830 sah sich Goethe der schwierigen Aufgabe gegenüber, Ottilies Zukunft und die seiner Enkel abzusichern. Mit seinem Testament machte er Ottilie jedoch eine zweite Heirat finanziell unmöglich. Im Haus am Frauenplan hatte jetzt der Nachlassverwalter das Sagen: die Arbeitsräume des Dichters wurden versiegelt. Ottilie fühlte sich in ihrer Mansardenwohnung lebendig begraben und so folgten Jahre mit wechselnden Aufenthaltsorten. Freundinnen bewährten sich in dieser schwierigen Zeit, die häufig mit Geld aushalfen. Die Tochter Alma starb mit knapp 17 Jahren in Wien, wo Ottilie seit 1839 ihren ständigen Wohnsitz hatte, an Typhus. 1869 zog Ottilie nach Jena und kehrte ein Jahr später in das Haus am Frauenplan zurück, wo sie am 26. Oktober 1872, kurz vor ihrem 76. Geburtstag, verstarb.
Obwohl die Neuerscheinung den Titel „Die Schwiegertochter“ trägt, beschränkt sich von Gersdorff nicht ausschließlich auf diese Rolle, die Ottilie von 1817 bis 1832 im Haus am Frauenplan ausfüllte. Auf der Grundlage akribischer Recherchen widmet sich die Autorin auch der verzweifelten Suche nach Liebesglück und den vier Jahrzehnten in Ottilies Biografie nach Goethes Tod.
Mit profunder Sachkenntnis, aber auch mit viel Sympathie ist von Gersdorff die aufschlussreiche Biografie einer außergewöhnlichen Frau gelungen, die trotz aller Schicksalsschläge das weibliche Rollenbild ihrer Zeit hinter sich lassen und ihr eigenes Leben führen wollte.
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Wenn es um Lebensbeschreibungen von Goethe und dessen Umfeld geht, kommt man an zwei Namen nicht vorbei: Sigrid Damm und Dagmar von Gersdorff. Letztere hat nicht nur Biographien zu Goethes Mutter (2001) und dessen Enkeln (2009) vorgelegt, sie hat sich auch mit den Geliebten und Musen des Dichters befasst: mit Lili Schönemann (2002), Marianne von Willemer (2003) und Ulrike von Levetzow (2005). Im Mittelpunkt ihres jüngsten Buches steht Goethes Schwiegertochter.
Vor 225 Jahren, am 31. Oktober 1796, wurde sie im preußischen Danzig geboren: Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette Freiin von Pogwisch. Nach einer wechselvollen Kindheit und Jugend stand sie als Zwanzigjährige vor der Entscheidung, wen sie heiraten sollte: den vierzehn Jahre älteren Premierleutnant Ferdinand Heinke aus Breslau oder Goethes Sohn August. Für ihre Großmutter stand eine Verbindung mit dem unehelichen Spross des Dichters außer Frage, Ottilies Mutter war da ganz anderer Meinung. Weihnachten 1816 hielt August schließlich um Ottilies Hand an, am Silvestertag fand die Verlobung statt. In seinem Tagebuch vermerkte Goethe: „Gegen Abend Hofr. Meyer. Frau von Pogwisch und Tochter. Verlobung von Ottilie von Pogwisch mit meinem Sohn.“ Ein halbes Jahr darauf, am 17. Juni 1817, notierte er kurz und knapp: „Abends 7 Uhr Trauung, Gesellschaft, Abendessen.“ Mehr hatte der Geheimrat dazu nicht zu sagen.
Zurückgekehrt von der Hochzeitsreise richtete sich das junge Paar im Obergeschoss von Goethes Haus am Weimarer Frauenplan ein. Am 9. April 1818 brachte Ottilie dort ihr erstes Kind zur Welt: Walther. Zwei Jahre später – nach einer überaus schwierigen Entbindung – folgte Wolfgang. Doch das anfängliche Glück war schnell vorbei. Die Ehe wurde für Ottilie mehr und mehr zu einer Belastung. August war oft gereizt. Er kontrollierte ihre Ausgaben, warf seiner Frau Verschwendungssucht vor und kritisierte ihre Leichtlebigkeit. Im Juli 1824 beklagte sich Ottilie in einem Brief an ihre Mutter: „Sieben Jahre lang habe ich mich ungeliebt gesehen, stets getadelt, stets verletzt“. August lehnte eine Trennung kategorisch ab – ein solcher Skandal kam für Goethes Sohn nicht in Frage. „Er bewahrte Ruhe“, so Gersdorff, „und hoffte, seine exaltierte Frau werde mit der Zeit zur Vernunft kommen.“ Er schien Recht zu behalten. Die beiden kamen sich wieder näher, und ein weiteres Familienmitglied kündigte sich bald schon an. Am 29. Oktober 1827 hielt der stolze, aber doch ein wenig ungerührt reagierende Großvater fest: „Mittags, eine Enkelin war angekommen.“ Getauft wurde sie auf den Namen Alma; nicht einmal 17 Jahre währte ihr Leben.
Schon als Jugendliche hatte Ottilie Geschichten erfunden und sich an Gedichten versucht. Erstmals veröffentlicht wurden ihre Arbeiten im Schreib-Almanach auf das Jahr 1815. Doch als Schwiegertochter von Goethe musste sie ihre Ambitionen zurückstellen – ein Schriftsteller im Haus war genug. Da kam ihr im Oktober 1829 eine andere Idee: Wie wäre es mit einer Zeitschrift? Im kleinen Kreis, dem auch Goethes Sekretär Eckermann angehörte, wurde man sich schnell einig. Das Journal mit dem Titel Chaos sollte, das war Ottilies erklärte Absicht, die Leser „zur Teilnahme wie zu eigener Fortbildung und selbständiger Tätigkeit“ anregen. Im Gespräch mit Eckermann urteilte Goethe im April 1830: „Es ist freilich nur ein dilettantischer Spaß, und ich weiß recht gut, daß nichts Großes und Dauerhaftes dabei herauskommt, allein es ist doch artig und gewissermaßen ein Spiegel der geistigen Höhe unserer jetzigen weimarischen Gesellschaft.“ Im Februar 1832, einen Monat vor Goethes Tod, erschien die letzte Nummer.
Abgesehen von all dem: In Ottilies Ehe kriselte es weiter. Und so kam ihr die Entscheidung ihres Mannes gerade recht. Gemeinsam mit Eckermann wollte August sich einen lang gehegten Traum erfüllen und nach Italien reisen – endlich wäre sie für einige Wochen oder Monate allein. Die beiden Männer verließen Weimar am Morgen des 22. April 1830. Eckermann musste bereits Ende Juli die Rückreise antreten, für seinen Sohn hatte Goethe eine Urlaubsverlängerung bis Ende des Jahres erwirkt. Am 16. Oktober traf August in Rom ein, der letzten Station seiner Reise. An Pocken erkrankt, starb er dort zehn Tage später. Beigesetzt wurde er auf dem protestantischen Friedhof von Rom. Die Nachricht von seinem Tod traf erst am 10. November 1830 in Weimar ein. – Ein solches Ende ihrer Ehe hatte sich Ottilie sicherlich nicht gewünscht. Schon bald darauf ein zweiter Schicksalsschlag. Am 22. März 1832 starb Goethe, der für sie mehr als nur ihr Schwiegervater war. Fünfzehn Jahre lebte sie in seinem Haus, Aufzeichnungen darüber gibt es nicht – die Nähe war zu groß. Ihrer Mutter gegenüber äußerte sie: „Die Welt vermißt Goethe, ich aber verliere den Vater!“ Sie war 36 Jahre alt, die zweite Hälfte ihres Lebens lag noch vor ihr.
Was in den kommenden vier Jahrzehnten geschah? Auch davon erzählt Dagmar von Gersdorff in gewohnt routinierter Manier. Auf der Grundlage des zum einen im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und zum anderen in der Newberry Library in Chicago aufbewahrten Nachlasses zeichnet sie ein lebendiges Bild einer selbstbewussten, gegen alle Konventionen auftretenden und ihre Umwelt faszinierenden Frau.
Adele Schopenhauer, die Schwester des Philosophen und Ottilies langjährige Freundin, bewunderte, wie sie ihrem Tagebuch im Juli 1822 anvertraute, deren „Phantasie, ihre Regellosigkeit des weit greifenden Geistes, die fesselfreie Empfindung aller Tiefen des Lebens und Liebens“. Das Glück, sich geliebt zu fühlen, sei ihr eigentlicher Lebensantrieb gewesen. – Ottilie von Goethe verstarb am 26. Oktober 1872 in Weimar.
Dagmar von Gersdorff: Die Schwiegertochter – Das Leben der Ottilie von Goethe, Insel Verlag, Berlin 2021, 312 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Dagmar von Gersdorff, Goethe, Manfred Orlick, Mathias Iven, Ottilie, Schwiegertochter