26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Fuchs 8“ – Deutsches Theater, Studio Box / „Das Ereignis“ – Berliner Ensemble, Neues Haus / „Dschinns“ – Gorki Theater

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DT: Brief vom schlauen Füchslein. Bei uns zu Hause in Mitte zwischen BE und DT streunt öfters mal ein Fuchs. Herrliche Tiere, gespitzte Ohren, gestreckter Wuschelschwanz. Jetzt hat die Schauspielerin Linn Reusse solch ein Prachtexemplar in die Box gelockt.

Genauer gesagt, Reusse spielt Fuchs, noch genauer: Sie gibt ihm ihre Stimme. Denn dieses so besondere Tier, in seinem Rudel die Nummer acht, hat heimlich und fleißig vor den Fenstern der Menschen gehockt, gestaunt und ihre Sprache gelernt, freilich ohne Regeln der Rechtschreibung. Und es hat an die Mänschen einen Brif geschripen. Eine Geschichte erzählt vom Spilen mit Füksen unter alten Boimen, von Elkawes, einem Pakplaz mit Schop-Mool sowie von sehr besonderen Momänten.

Die wunderbare Linn Reuse als schlaues Füchslein bringt uns das kuriose, witzige, zugleich sehr schmerzliche Dokument lebendiger füksischer Erzählkunst zu Gehör. Ergänzt durch live gezeichnete und an die Wand projizierte Comic-Clips (auch das vermag Fuks 8) sowie durch Christoph Bernewitz, den Gitarristen, der je nach Stimmung fein und zart oder hart und schrill in die Saiten greift.

Natürlich steckt hinter dem Brif vom Fuks 8 an die so seltsamen Mänschen ein Mensch. Nämlich George Saunders, einer der besten amerikanischen Shortstory-Autoren der Gegenwart, mit seinem so liebenswürdig humorvollen, sanft ironischen, zugleich aber heftig verstörenden Buch „Fox 8. A Story“ (auf Deutsch von Frank Heiber, 2019 bei Luchterhand).

Zunächst ist in der Fuchs-Post die Rede vom gut Spielen und Futtern unter Bäumen sowie von den klugen Menschen, die so viel Tolles können. Doch dann, böse Überraschung, kommen sie mit Elkawes, machen den Wald platt für Parkplatz und Shopping-Mall. Neugierig inspiziert Fuchs 8 mit Freunden das verwandelte Revier. Ganz gut! Doch wieder kommen Menschen; gar nicht gut. Jagen grölend die Füchse, erwischen einen, massakrieren ihn. Und haben Spaß dabei.

Wie das? Warum das sinnlose Schlachten, wo doch die bislang bewunderten Mänschen so klug sind und so viel Schönes können? Verwirrung unter den Füchsen. Schwere Enttäuschung. Fortan wollen sie nichts mehr zu tun haben mit Mänschen.

Es ist eine kleine, starke, gelegentlich possierliche, zunächst friedlich zukunftsfrohe, schließlich aber schlimme Geschichte, die Linn Reusse allein mit ihrem Sprachvermögen groß macht (Regie: Marcel Kohler). Die uns heftig unter die Haut geht. Und ans Herz. – Wie das wehe leise Liedlein von Cat Power, das Fuchs 8 – ob nun tröstend oder nicht – uns singt zum Abschied (sogar Englisch geht unter Füchsen): „I’ll Be Seeing You“. Dazu hängt unüberhörbar im Raum die einfache Frage: Wie wird das gehen mit uns; mit dem Überleben von allem, was da ist auf Erden …

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BE: Scham und Wut. Frankreich Anfang der 1960er Jahre. Annie, ein ehrgeiziges, lebenslustiges Mädel, einfache Verhältnisse, Arbeiterschaft, sie hat es geschafft. Erst Abitur, jetzt Studium, der soziale Aufstieg ist programmiert. Doch da passiert‘s: Party-Flirt – Schwangerschaft. „Im Vergleich zu einer zerstörten Karriere wog eine Stricknadel in der Vagina nicht schwer.“

So steht es im biografisch grundierten Roman „Das Ereignis“ der französischen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, in dem die Autorin 35 Jahre später auf ihre damals illegale Abtreibung zurückblickt. „Seit Jahren umkreise ich dieses Ereignis in meinem Leben“, schreibt sie. „Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte.“

Dafür fand sie eine frappierend nüchterne, selbstkritisch insistierende, bestürzend wahrhaftige Sprache. Wobei sie raffiniert verschiedene Zeitebenen mischt: Zum einen das drastische, ungeschönte, unmittelbare Erzählen vom blutigen Damals, von den grauenvollen Nöten und Schmerzen; zum anderen die Reflexion der traumatischen Erlebnisse aus der Distanz von Jahrzehnten. So kommt es zur literarisch kraftvollen Verschmelzung des lebensgefährlichen Eingriffs einer Engelmacherin (Ärzte verweigern sich) mit dem ebenso lebensgefährlichen gesellschaftlichen Zugriff: den machtvollen Mechanismen der Demütigung und Stigmatisierung durch Rechtsprechung, Religion, Moral, Tabus, Klassenzugehörigkeit und eben das Geschlechtliche. Persönliches wird da quasi automatisch und signifikant zum Politischen. Ganz ohne propagandistisches Fingerzeigen, sondern allein durch der Autorin mächtige Sprachkunst, die selbst zum Ereignis wird. Ein Meisterwerk.

Für dessen vornehmlich monologische Struktur fand die Regisseurin Laura Linnenbaum (Jahrgang 1986) den Trick: Die Figur der Annie – mithin die Vielschichtigkeit des Textes – teilen sich drei Schauspielerinnen, drei bemerkenswert starke. Da ist das naive „gefallene“ Mädchen im bieder wadenlangen Rock (Nina Bruns), die mit Hochsteckfrisur, eleganter Hose und Seidenbluse kühl Damenhafte (Pauline Knof) sowie die jungenhaft frech Aufmüpfige (Kathrin Wehlisch).

Im geschickt arrangierten Zusammenspiel des Trios fliegen die zwischen Unbekümmertheit, Überlebensnot, Scham, Trauer, Wut und sarkastischem Kommentar flirrenden, für Momente sogar witzigen Texte unterschiedlichster Stimmungslagen hin und her wie im Ping-Pong. Dabei den entsetzlichen Ernst der Lage nie verratend; immer konzentriert auf die Ambivalenzen des Textes. Atemberaubend.

Nun gut, dass die gesamte Spielfläche mit fruchtbarer Erde (oder ist’s bloß Dreck?) gesättigt ist, dass die Frauen exzessiv drin wühlen, um den Horror aus sich heraus zu lassen, dass sie sich ausziehen und gelegentlich mit der Unterwäsche irgendwie Symbolisches zeichnen – geschenkt. Doch derartige Effekte aus dem Fundus gängiger Regieeinfälle tun der insgesamt überwältigenden Intensität des 80-Minuten-Abends keinen Abbruch.

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Gorki: Katalog der Traumata. Ein Kessel Buntes, jetzt im Gorki. Zum Überlaufen vollgestopft mit einer Sammlung politisch-sozialer und mentaler Probleme aus dem Milieu türkischer Arbeitsmigranten (1970er Jahre) und deren Nachkommen; zusammengebalt in einer Art Familienporträt.

Querbeet aufgezählt: Racial Profiling, Homo- und Transfeindlichkeit, Queerness, türkisch-kurdische Konflikte, PKK Öcalan, Zerrissenheit zwischen Kulturen, Religion, Identitätsverluste, das kalte Deutschland mit seinem strukturellen Rassismus, Kriegserfahrungen, Verlust eines Kindes, Generationenkonflikte … So etwa.

Das alles in einem spannungsgeladenen, Generationen übergreifenden Familienporträt, das die Berliner Autorin (und taz-Redakteurin) Fatma Aydemir in ihrem zweiten, mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichneten Roman „Dschinns“ eindringlich und aufregend zeichnet. All ihre zahlreichen Figuren schleppen Traumata mit sich, Verunsicherung, Zwänge, Ängste, „innere Dämonen“ – zusammengefasst: „Dschinns“.

Nun hat Regisseur Nurkan Erpulat, bestens bekannt als theatralisch aufregender Geschichtenerzähler, den Roman auf die Bühne gewuchtet (Script: Erpulat mit Dramaturg Johannes Kirsten). Diesmal leider: Man hat sich überhoben an der Überfülle von Themen, die inszenatorisch immer nur angerissen werden. Keine Figur entwickelt sich, wird plastisch. Das im Buch Eindringliche und Aufregende – auf der Bühne flacht’s ab in einem Leporello grob skizzenhafter Kurzszenen unterschiedlichster Spielweisen: melodramatisch, komödiantisch-kabarettistisch, slapstickhaft oder psychologisch. Dabei agiert das Ensemble perfekt – wie immer im Gorki.

Zur Gliederung dieses Nummernprogramms – wer Fatimas packende Romanvorlage nicht kennt, hat ohnehin Schwierigkeiten mit der Orientierung –, und auch, um dem Ganzen einen poetische Sound zu geben, ist es durchsetzt mit beeindruckend schönen musikalischen Einlagen von Folk bis Pop (Kompositionen, Arrangements und tolle Soli: Anthony Hüseyin).

Schade, in diesem Abend steckt eigentlich das Zeug zur großen Oper. Doch immerhin, zum Schluss gibt es einen solchen Moment: Die Wutrede der „westlichen“ Tochter an ihre „Kopftuch“-Mutter, die, Gehorsam erzwingend, ihrem Kind Emanzipation (Bildung und sozialen Aufstieg) verweigert. Sie habe nicht das Recht, ihre erlittene patriarchalische Unterdrückung an die Tochter weiter zu geben. Das hallt gellend nach.

Übrigens, in einer Pressemitteilung der Intendanz heißt es: „Liebe Kolleg*innen! Bitte beachten Sie, dass Sie Anthony Hüseyin in Ihren Beiträgen zu ‚Dschinns‘ nicht misgendern.“ Er sei „ein*e nicht-binäre*r Singer-Songwriter*in und Performer*in und benutzt Pronomen they/them/it …“ – Da bohrt die Frage, wie korrektes Gender-Deutsch – auf Bühnen gesprochen – wohl klingt?