Armin Petras inszeniert gerne „nach“. Das ist spätestens seit Frank Castorf nicht mehr sonderlich originell. Auch andere Theaterregisseure misstrauen den Dramatikern und benutzen lieber zumeist umfänglichere literarische Vorlagen als Steinbruch zur Förderung eigener Schöpfungstätigkeit. Die Verlage sehen das nicht ungern. Das bringt zumindest bei Autoren, die noch keine 70 Jahre tot sind, doppelten kommerziellen Gewinn. Blöd sind Opernregisseure dran, die müssten nach diesem Muster eigentlich ihre Musik selber schreiben. Seit aber zunehmend Film- und Schauspielregisseure an den Opernbühnen Mitteleuropas herumwildern, kommt niemand mehr auf die Idee, solches zu verlangen… Es reicht ja, wenn der Dirigent die Partitur lesen kann. Falls nun ein Romanautor Pech hat und eine Dramatisierung zu seinen Lebzeiten geschieht, wird er zur Premiere eingeladen und wundert sich gelegentlich, was er gerade auf der Bühne zu sehen bekam.
Ich weiß nicht, wie es David Grossman am 19. Februar 2023 im Berliner Deutschen Theater erging, als er nach dem Fallen des Vorhangs etwas zögerlich zum Schlussapplaus die Bühne betrat. Er erhielt jedenfalls den stärksten Beifall des Premierenpublikums, das die Petrassche Inszenierung nach seinem 727-Seiten-Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (2008) nur mit gedämpfter Begeisterung aufnahm.
Die Fabel der Geschichte ist schnell erzählt. Der junge Ofer (Tamer Tahan) hat bei der israelischen Armee seinen Wehrdienst geleistet und steht kurz vor der Entlassung, als er erfährt, dass seine Einheit in einen Kampfeinsatz muss. Er will nicht, dass die Kameraden ohne ihn in den Krieg ziehen und lässt sich in Begleitung seiner Mutter Ora (Anja Schneider) vom befreundeten arabischen Taxifahrer Sami (Natali Seelig) zur Truppe kutschieren. Beim Abschiednehmen flüstert er ihr einen Satz ins Ohr, den wir erst ganz am Schluss des Stückes zu erfahren bekommen. Wie es Ofer weiter ergeht, erfahren wir nicht. Dafür begleiten wir Ora und Avram (Max Simonischek) auf einer Wanderung durch Israel bis zu den Golan-Höhen, die allerdings keine Wanderung ist, sondern eine Flucht. Ora flieht vor einer Nachricht, die sie fürchtet, der möglichen Nachricht vom Tod des Sohnes. Avram ist Ofers leiblicher Vater. Ofer wuchs aber ohne ihn auf. Ora lebte im Prinzip vom Tag nach der Zeugung des Kindes mit Ilan (Kaspar Locher) zusammen, der auf der Bühne nur als ein in blutige Verbände eingewickeltes, immer wieder in Anfällen zusammenbrechendes Wesen erscheint.
Alle drei hatten sich in einem Tel Aviver Krankenhaus während des Sieben-Tage-Krieges 1967 unter fürchterlichen Umständen kennengelernt. Petras lässt die Szenen aus der Klinik hinter dem vielerorts Mode gewordenen Gaze-Vorhang spielen, mit der Handkamera abfilmen und auf erwähnter Gardine Richtung Publikum flimmern. Der offenbar bewusst nicht synchron zum Bild laufende Ton soll wohl Authentizität vermitteln. Das kann beeindruckend und reizvoll sein. Petras und seinem Inszenierungsteam gelingen auch berührende Momente – aber in erster Linie sind die der überragenden Anja Schneider zu danken.
Nicht der immer wieder zerfusselnde Inszenierungsfaden ist es, der das Publikum bei der Stange hält, die Schneider vollbringt dieses Kunststück. Und Petras macht es ihr schwer. Die in einem Theaterabend schwer zu bändigende Themen- und Ideenflut des Grossmanschen Romans – Grossman geht der israelischen Gesellschaft auch aus persönlichster Betroffenheit ans Eingemachte – sucht er in einem von Einfällen überbordenden Assoziationsstück einzubinden. Schauspieler sind da nur störend. Die Video-Gaze ist alles. Eigentlich könnte man diese Szenen auch vom Datenträger abspielen …Wie gesagt, das kann beeindruckend und reizvoll sein. Aber das ist wie mit dem Zucker im Kaffee: Wenn’s zu viel wird, ist er ungenießbar.
Jedenfalls ging ein Aufatmen durch das Publikum, als das Pausenlicht anging – zuvor musste Max Simonischek Avrams traumatisierende Erlebnisse im Jom-Kippur-Krieg ausspielen. Aber weniger diese als mehr das in einer schier endlos scheinenden Schleife sich abwickelnde Spiel machten diese Szene zur langwierigen Qual. Ein Roman ist eben ein Roman. Er gehorcht eigenen Regeln. Und die gehen auf der Bühne nicht immer auf. Man kann natürlich auch gegen sein Publikum spielen (lassen).
Nach der Pause werden die albernen Video-Spiele auf ein Mindestmaß zurückgefahren. Es scheint so, als ob Ora und Avram tatsächlich die Geschichte ihres schwierigen Beziehungsgeflechts ausspielen könnten. Hier scheinen elementarste Gefühlsabgründe auf, immer wieder gebrochen durch die furchtbare Kriegsgeschichte ihrer Heimat. Gelegentlich gelingt dies Anja Schneider und Max Simonischek. Schwierig genug auf der von Peta Schickart zugerümpelten Bühne. Schwierig genug, wenn Petras in solchen Momenten dem deutschen Zeitgeist erlaubt, nahöstliche Bilder prägen zu wollen: der Mutter mit schwarzem Vollbart schießt die Milch … und Avram darf endlich einmal in seinem Leben ein Baby auf den Arm nehmen. Immerhin unterlässt er jeden Stillversuch. Eine verunglückte Sex-Szene am seichten See (Achtung: Umwelt-Problematik!) – eigentlich sollen Avrams tiefe seelischen und physischen Verletzungen gezeigt werden – ist dann nur noch peinlich. Wenigstens beschränkt Ora sich darauf, ihren BH über die Bühne zu schleudern.
David Grossman schrieb einen Roman voller Verzweiflung und Schmerz und mit wenig Hoffnung über Konflikte, die seine Heimat seit Jahrzehnten schier unlösbar in ihren Krallen halten. Es sind aber auch Konflikte, die mit geradezu archaischer Urgewalt wieder einmal über die gesamte Menschheit hinwegzurollen drohen. Die blutsaufende Kriegsfurie, vollständig verstandesmäßig kaum zu fassen, ist mit ihrer unentrinnbaren Sogwirkung mitnichten „nur“ ein israelisch-arabisches Thema. Mit den immer verstaubter wirkenden Regie-Theater-Albernheiten ist die erst recht nicht greifbar. „Vielleicht sind wir für diese Art Theater einfach zu alt“, sinnierte ein Paar auf dem Nachhauseweg über den Sinn des Ganzen. Nein, das seid ihr nicht, möchte ich den beiden zuflüstern. Hier hat sich ein Regisseur einfach an einem Stoff verhoben, für den er sich wahrscheinlich mehr Zeit – auch Probenzeit! – hätte nehmen müssen.
Ach so, Ofers Bitte an die Mutter: Wenn er fallen sollte, möge sie doch unbedingt das Land verlassen… Nur, wo soll man denn hingehen, wenn man Ora heißt? Nach Deutschland? Deutschland verbietet sich immer mehr.
Wieder am 1.3., 8.3., 21.3. und 29.3.
Schlagwörter: Armin Petras, David Grossmann, Deutsches Theater, Wolfgang Brauer