26. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2023

Mehr Phantasie in die politische Praxis

von Gerd-Rüdiger Hoffmann

Der bekannte Marx-Forscher Iring Fetscher stellte 1978 die Frage, warum bei westlichen Experten und östlichen Planern kaum politische Phantasie vorhanden wäre. Seine vorläufige Antwort war, beide hätten so viel Macht, dass ihre Phantasie darunter notwendig leiden müsse. Auch der Marxist Ernst Bloch (1885-1977) beschäftigte sich mit diesem Thema. Seine deutliche Forderung lautete: „Die Unterernährung der politischen Phantasie muß aufhören.“

Besonders Sätze wie dieser blitzen zurzeit in linken Medien auf. Ihre Aktualität erfahren sie vor allem beim Betrachten der oft hilflosen Versuche, heutige gesellschaftliche Konflikte politisch und theoretisch zu begreifen und nach zukünftigen Lösungen im Praktischen zu suchen. Ein Dauerbrenner unter den Ernst-Bloch-Zitaten ist das „Prinzip Hoffnung“. Leider zeigt sich besonders an diesem Beispiel eine gewisse Liederlichkeit im Umgang mit marxistischer Philosophie. Das trifft ebenfalls bei dem Begriffspaar „Wärmestrom“ und „Kältestrom“ zu, das heute in Unkenntnis der Blochschen Ideen offenbar zuerst an die Gas- und Strompreisbremse denken lässt, wie Michael Jäger in einem Artikel wahrscheinlich richtig vermutet. Manchmal werden sogar direkte Parallelen von Bloch-Texten mit Erklärungsversuchen zur heutigen Situation gezogen. So soll zum Beispiel offenbar seine angesichts der faschistischen Gefahr große Begeisterung für die patriotische Haltung der Tschechoslowakei 1938 auch für den aktuellen Bezug zur von Russland überfallenen Ukraine taugen (siehe Blättchen 12/2022).

Nicht immer wird das Hantieren mit Bloch-Zitaten dem politisch denkenden Philosophen gerecht. Dennoch könnte die Wirkung sein, dass seine wohlformulierten Geistesblitze zum Lesen ganzer Texte anregen. Das wiederum könnte ein gründlicheres Nachdenken über die Probleme im Heute zur Folge haben. Denn dazu regt Bloch noch immer an. Zum Einstieg müssen es ja nicht gleich alle 1628 Seiten seines bekanntesten Werkes „Das Prinzip Hoffnung“ sein. Obwohl – auch das lohnte sich. Und einmal mit dem Lesen begonnen, könnte das Buch selbst für im Umgang mit philosophischen Fachtexten Ungeübte neugierig auf mehr Erkenntnis in schöner Sprache machen. Einzelne Kapitel tun es selbstverständlich vorläufig auch. Sie könnten vielleicht politisch aktiven, aber gegenüber jeder Theorie skeptischen Menschen eine klarere Sicht auf gegenwärtige Fragen ermöglichen. Eine Warnung, eigentlich auf die Feuerbachthesen von Marx gemünzt, lieferte Bloch jedoch gleich mit: „{…} berühmte Sätze haben es zuweilen an sich, sehr wider ihren Willen, daß sie kein Nachdenken mehr erregen, oder daß man sie zu roh herunterschlingt“. Wer sich auf Bloch einlässt, hat es mit der Aufforderung zum Selberdenken zu tun.

Das Gespräch zwischen Ernst Bloch und Fritz Vilmar aus dem Jahre 1965 ist unter dem Titel „Über ungelöste Aufgaben der sozialistischen Theorie“ erschienen und benennt im Wortsinn ein Problem, das bis heute als Aufgabe steht. Es lohnt sich, diesen Text mit „kundiger Unzufriedenheit“ über die gegenwärtige Politik der institutionalisierten Linken zu lesen. Die Aufforderung, dass die Unterernährung der politischen Phantasie aufhören müsse, hat Bloch 1974 während der Ölkrise formuliert. Wieder einmal ging es Ernst Bloch um die Frage, wieso sozialistische Ideen nur „gedämpft in den Ohren des Volks“ ankommen, obwohl doch die Probleme des aktuellen Kapitalismus klar benannt sind und der Sozialismus allein aus ökonomischen Gründen als notwendig erscheinen müsste? Und auf der anderen Seite die Problematik, wieso junge Menschen sich ziemlich schnell nach rechts rücken lassen?

Außerdem ergab sich für ihn das Thema, warum sind die Beeinflussungen pro „Rettung des Großkapitals und Monopolkapitals, Überspielen des Ölskandals, der doch wirklich gegen den Himmel schreit oder vielmehr gegen die Hölle, in der er endlich verbrennen soll mitsamt dem Öl“ so erfolgreich. Und warum wird hingegen die marxistische Propaganda als zu anstrengend empfunden und zeitigt kaum Resultate. Dabei verwendet Bloch den Begriff „Propaganda“ positiv. Bereits in früheren Schriften ärgerte er sich maßlos, wenn Kommunisten im Wahlkampf in direkter Auseinandersetzung mit Nazis trotz der Erläuterung ökonomischer Zusammenhänge den Kürzeren zogen. Bloch versuchte immer wieder neu, darauf eine Antwort zu finden.

Ein erster Schritt: „Zunächst ein etwas größerer Horizont und Befreiung vom bloßen Ökonomismus, Befreiung vom Positivismus, einem Fremdkörper im Marxismus.“ Zwei Begriffe müssten dabei unterschieden werden: „Kältestrom“ und „Wärmestrom“. Der Kältestrom liefere detektivisch eiskalt die Analyse der Situation. Das sei notwendig, reiche jedoch nicht, um ein produktives Theorie-Praxis-Verhältnis hinzubekommen. „Der Wärmestrom ist das, was in die Phantasie greift, was moralisch bewegt {…}. Beides, der moralische Hintergrund und das In-die-Phantasie-Greifen, bringt uns der Praxis näher als das sture Ableiern von ökonomistischen Parolen und das Sammeln von Zitaten, die überhaupt nicht mehr durchdacht werden.“

Auch heute gilt, unreflektiertes Hantieren mit Umfragen und Statistik gepaart mit theoretischem Halbwissen führt recht schnell zur Akzeptanz der Sachzwänge. Jedoch genau diese sollten mit Phantasie und theoretischem Wissen im Wesentlichen als Denkzwänge denunziert werden. So dürfte schließlich die verlorengegangene organische Verbindung von erlebter Praxis in der Provinz auf der einen Seite und linken programmatischen Thesen auf der anderen Seite halbwegs wieder herzustellen sein. Weiterhin sei dazu die Konzentration auf die Sache selbst notwendig, um nicht im Denken verfangen zu bleiben, dass die Anhängerschaft schon irgendwie bereit wäre, Programme, kluge Ideen der Vordenker oder der Funktionäre zu verwirklichen.

Es geht um die tatsächlichen Aufgaben außerhalb zermürbender Versammlungen, die mit dem innerparteilichen Einfluss von Gruppen, Kampf um Listenplätze vor Wahlen, falschen Formulierungen in Reden und Pressemitteilungen, Drucksachen und dem Verfassen immer neuer programmatischer oder auch nur polemischer Schriften befasst sind. Die Erfahrungen der internationalen Linken in Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen zeigen, dass sie in der Regel immer dann erfolgreich waren, wenn sie sich auf Aufgaben konzentrierten, die von allen als wichtig im Sinne von mehr sozialer Gerechtigkeit, Frieden und ökologischer Nachhaltigkeit erkannt wurden. Das geschah fast immer zweifelnd und nicht selten im Streit zum Zwecke gemeinsamen Handelns, aber eben der Sache selbst wegen. Erinnert sei an die Warnung des Literaturwissenschaftlers Hans Mayers  auf der Kulturkonferenz der PDS im Berliner Ensemble 1996: Die Linke möge aufhören, terminologiesierend aufeinander einzuschlagen. Notwendig ist vielmehr die Arbeit an einem klar formulierten Ziel, das – selbstverständlich theoretisch begründet – mit einer großen Portion „konkreter Utopie“ in die Zukunft weist. Es müsse alles getan werden, so Mayer, „um zu zeigen: Hier wird mit Menschen gearbeitet und nicht mit Gesinnungsträgern.“ Eine Linke, die lediglich jede auf Wahlen ausgerichtete Meinungsumfrage angespannt verfolgt und den gegenwärtigen Kapitalismus soziologisch analysiert, jedoch keine Alternative nennt, dürfte sich als politische Bewegung über kurz oder lang als überflüssig erweisen.

Der Soziologe Klaus Dörre sieht durchaus gute Gründe, „den Sozialismus, nunmehr als ökologischen oder besser: als demokratisch-nachhaltigen, wieder zu beleben“. Gefragt ist, so meinte bereits Bloch, ein „sozialistischer Gedanke“, der wie bei Marx gelernt, sich über „das abstrakte Schwärmen“ wie auch über bloße „Realpolitik“ erhebt. Und noch ein weiteres in kritischer marxistischer Tradition fest verankertes Prinzip sollte ins Spiel kommen: der Zweifel. Doch so, wie es bei Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Lob des Zweifels“ heißt: „Freilich, wenn ihr den Zweifel lobt / So lobt nicht / Das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist!“

Keinen Sinn ergibt es, wenn die Prinzipien Hoffnung, Zweifel und Verantwortung gegeneinander ausgespielt werden oder als sich immer wieder einmal ablösende Moden gehandelt werden. Das gilt aktuell angesichts des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine und dem Reden über „unsere zu verteidigenden (westlichen) Werte“ in besonderer Weise. Aus Verantwortung sind mehr Zweifel im Sinne Brechts und Blochscher Hoffnung angesagt. Phantasie ist jedenfalls nötig, wenn Sozialismus nicht bloß abschreckendes S-Wort bleiben, sondern als konkrete Utopie wieder belebt werden soll. Und Frieden nicht mit militärischer Logik als Siegfrieden angestrebt wird.