26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

1923 – eines der schwärzesten Jahre deutscher Geschichte

von Ulrich Busch

Das Jahr 1923 war ein ereignisreiches, ja geradezu turbulentes Jahr. Es markiert eine „Zeitenwende“ in der deutschen Geschichte. Markante Ereignisse und Merkmale waren unter anderem – die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen, der Streit um die Reparationszahlungen, die Instabilität der Weimarer Republik und der immer lauter werdende Ruf nach einer Diktatur, die separatistischen Bestrebungen im Rheinland und in der Pfalz, der Hamburger Aufstand der Kommunisten, der Putschversuch Hitlers in München, die immer mehr außer Kontrolle geratene Hyperinflation, der Hunger und das Elend großer Volksmassen, das verbreitete Schiebertum, die großstädtische Vergnügungssucht und die allgemeine Zunahme der Kriminalität.

Schaut man auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorgänge, so war 1923 wahrlich ein schwarzes Jahr, „das traurigste und schlimmste, das wir bisher erlebten“, wie ein Zeitzeuge in seinen Aufzeichnungen vermerkt hat. Bezieht man die Kultur mit ein, so hellt sich das Bild jedoch auf: „Wirtschaftliche Misere, gesellschaftliches Chaos und politische Instabilität gingen […] Hand in Hand mit einem bemerkenswerten kulturellen Aufbruch“, vermerkt Volker Ullrich.

Heute sind es vor allem zwei Entwicklungen, die für das Jahr 1923 im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind: die Hyperinflation, die im Herbst 1923 ihren Höhepunkt erreichte, und die Innovationen auf kulturellem Gebiet, im Theater, im Film, in Literatur, Musik, Malerei und Architektur. Beide Entwicklungen hatten beachtliche Auswirkungen auf die nachfolgenden Jahrzehnte. Man denke hier an die Rolle des Films als Massenmedium, an das Theater von Max Reinhardt, Leopold Jessner, Erwin Piscator und Bertolt Brecht, an Autoren wie Georg Kaiser, Wieland Herzfelde und Karl Sternheim, an bildende Künstler wie Otto Dix, George Grosz, John Heartfield und viele andere, an das Bauhaus in Weimar unter Walter Gropius.

Gravierender für die Zeitgenossen war jedoch die Nachkriegsinflation, die 1922 in eine Hyperinflation überging und im November 1923 mit der totalen Entwertung der deutschen Währung ihr Maximum und ihren Endpunkt erreicht hat. – „Nichts“, schrieb rückblickend Stefan Zweig, „hat das deutsche Volk […] so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.“ Andere sahen dies ähnlich: Die Inflation des Jahres 1923 habe „Deutschland fertig“ gemacht, schrieb zum Beispiel der Historiker Sebastian Haffner, fertig „zu jedem phantastischen Abenteuer“. Auch Thomas Mann erblickte im „Hexensabbat“ der Hyperinflation „ein Vorspiel für das Kommende“: „Es geht ein gerader Weg von dem Wahnsinn der deutschen Inflation zum Wahnsinn des Dritten Reiches. So wie die Deutschen ihre Geld-Einheit zur Million, Billion und Trillion anschwellen und schließlich zerplatzen sahen, so sahen sie später ihren Staat zum Reich aller Deutschen, zum Lebensraum, zur europäischen Ordnung, zur Weltherrschaft anschwellen, und werden ihn so auch noch zerplatzen sehen.“

All diese Ansichten und klugen Einschätzungen, die im hier vorliegenden Buch von Volker Ullrich ausführlich zitiert sind, wurden indes nach 1923 verfasst. Für die Menschen jener Zeit stellte sich das Drama der permanenten und schließlich totalen Geldentwertung weit weniger übersichtlich oder gar zielführend dar: Für sie war das, was 1923 kulminierte, einfach nur ein grauenhaftes und unbegreifliches Chaos, die Entwertung ihrer Ersparnisse und Einkommen, aber auch aller überkommenen Wertvorstellungen und ökonomischen wie sozialen Normen, der Zusammenbruch der bisherigen Ordnung und die totale Enteignung. Im Buch werden Zeitungsmeldungen, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und andere Zeugnisse aus jener Zeit wiedergegeben, die dies anschaulich belegen.

Das Inflationstrauma von 1923 hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben, so dass es bis heute nachwirkt. Weit mehr als das Trauma des verlorenen Ersten Weltkriegs. Die den Deutschen nachgesagte besondere Sensibilität in Fragen des Geldes und die daraus abgeleitete besondere währungspolitische Stabilitätskultur in Deutschland sind im Grunde eine Spätwirkung der Hyperinflation.

Dies gilt es zu beachten, wenn heutzutage in der Europäischen Union über Teuerung und Inflation debattiert wird und die Vertreter anderer Staaten nur schwer nachvollziehen können, warum Deutschland hierzu eine andere Haltung einnimmt als zum Beispiel Italien oder Frankreich. Es ist eine Tatsache, dass in Deutschland jede Regierung scheitern wird, die der Inflation nicht energisch Einhalt gebietet und die nicht alles versucht, um eine Eskalation des Preisanstiegs zu unterbinden. Es ist davon auszugehen, dass dies auch künftig gilt.

Die aufmerksame Lektüre des Buches von Volker Ullrich erlaubt darüber hinaus, Parallelen und Differenzen zwischen damals und heute auszumachen. So führt Ullrich die Ursachen der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblich auf die Art und Weise der Kriegsfinanzierung (über Anleihen, statt über Steuern) und auf die betont „lockere Kreditpolitik“ der Reichsbank zurück. Ferner auf die „Folgelasten“ des verlorenen Krieges, die mittels der Geldentwertung auf die Bevölkerung umgelegt wurden, während die das Grund- und Produktivvermögen besitzenden Klassen davon weitgehend verschont blieben.

Ist das heute anders?

Bemerkenswert ist, dass Ullrich überzeugend herausarbeitet, dass eine Inflation für die Unternehmen und den Staat keineswegs eine Katastrophe darstellt, sondern bis zu einem gewissen Grade für diese geradezu ein Segen ist. Erst, wenn durch die totale Geldentwertung die Wirtschaft im Chaos zu versinken droht, wird die Inflation auch für die Unternehmer und den Staat zu einem Problem. Bis dahin aber bringt sie für diese beinahe nur Vorteile mit sich – insbesondere durch die fortgesetzte und letztlich vollständige Entschuldung, die massive Verbilligung von Krediten, die Absenkung der Reallöhne und die Abwertung der Währung, welche die Exportwirtschaft begünstigt und die Wettbewerbsposition der Inflationsvolkswirtschaft stärkt. So blühte auch im Jahr 1923 die deutsche Wirtschaft wie seit 1914 nicht mehr, es wurden riesige Gewinne und „Übergewinne“ erzielt, Spitzendividenden gezahlt und es expandierte der Export. Dass auf der anderen Seite durch den rapiden Anstieg der Lebenshaltungskosten und die Vernichtung der nominalen Vermögen der Lebensstandard der Bevölkerung drastisch sank, hat in den bürgerlichen Parteien niemanden ernstlich berührt und zu einem Umdenken bewegt. Erst als die Inflation völlig außer Kontrolle geriet und bürgerkriegsähnliche Zustände eintraten, wurde versucht, die Notenpresse anzuhalten. Mitte November 1923 ist es der Regierung schließlich gelungen, durch die Einführung der Rentenmark die Lage zu stabilisieren. Am 15.11.1923 stand der US-Dollar bei 2,52 Billionen Reichsmark. Das heißt für einen einzigen US-Dollar mussten 2.520.000.000.000,00 Reichsmark hingeblättert werden.

Damit war dann Schluss. Am 20.11. wurde ein fester Wechselkurs bekanntgegeben. Man entschied sich für den Kurs ein US-Dollar = 4,2 Billionen Reichsmark und für ein Umtauschverhältnis zwischen Rentenmark und Reichsmark von eins zu einer Billion. Damit war man faktisch wieder beim Vorkriegs-Dollarkurs von 4,20 Mark gelandet und die Währung war endlich wieder stabilisiert. Dies freilich um den Preis der Verarmung der Masse der Bevölkerung, der Ruinierung des Mittelstands und eines Rechtsrucks in Politik und Gesellschaft.

Es gibt gute Gründe, dies nach wie vor als Warnung zu verstehen. Auch wenn die Zeiten inzwischen andere sind, Geschichte sich bekanntlich nicht wiederholt und die gegenwärtige Inflation längst keine Hyperinflation ist. Die aufmerksame Lektüre des Buches „Deutschland 1923“ schärft jedoch die Sinne für die Gefahren, die mit einer Eskalation der Geldentwertung, mit einer großen Inflation verbunden sind.

 

Volker Ullrich: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, C. H. Beck, München 2022, 442 Seiten, 28,00 Euro.