Meine militärischen Erfahrungen sind lange her. Anfang der 1970er diente ich anderthalb Jahre als „Schütze Arsch im letzten Glied“ in Brandenburg-Hohenstücken. Als Infanterist ist die Chance, in einem Krieg zu überleben, gar nicht so ganz gering; obwohl er letztlich auch draufgeht, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit. Wenn ich mich recht erinnere, haben die Unteroffiziere im Unterricht den „Fußlatschern“ durchschnittlich 90 Minuten Überlebensdauer bei einem gegnerischen Angriff vorausgesagt. (Ein Erfahrungswert? Wenn, dann nicht der meiner wenig älteren Genossen; und ein Genosse war jeder, der diente.)
Damals fand ich das logisch. Du könntest dich eingraben, du könntest in Deckung gehen, du verfügtest über einen gewissen Bewegungsraum, um je nach Cleverness durchzukommen. Oder du könntest abhauen, mit dem Risiko von eigenen Vorgesetzten erschossen zu werden. Falls ich in einen Krieg gemusst hätte.
Für einen Mann in einem Panzer, der getroffen wird, ist’s enger. Wohl auch für Piloten, wenn sie sich nicht rechtzeitig aus dem Cockpit katapultieren können. Am angenehmsten hätten es die Artilleristen. Ihre Kanonen stehen weit weg vom Gemetzel, an dem sie mit ihren Granaten aus arroganter Ferne teilnehmen und – mitmetzeln würden.
Hätte, hätte, Panzerkette. Würde, würde, Stahlhelmbürde. Ich musste meine kläglichen Fähigkeiten – ich war ein sehr schlechter Schütze, jedoch ein ausdauernder Marschierer (befähigt genug, um einen langen Weg in Gefangenschaft gehen zu können oder in Richtung Bonn und Paris?) – nicht in einem Krieg einsetzen.
Aber ich erinnere mich an Manöver, in denen wir „Krieg spielten“. Sie fanden gern im Frühjahr und im Herbst statt. Das Wetter musste – konnten „die“ das bestellen? – übel sein. Es musste vor allem in den Nächten kalt sein, sodass unsereiner in dem „Eisenschwein“, dem Schützenpanzer, mit den sieben anderen Kameraden der Gruppe fast festfror am Eisen.
Ich erinnere mich auch an die Furcht der Unteroffiziere und Offiziere. Um möglichst „gefechtsnah“ zu agieren, gaben sie an die gemeinen Soldaten scharfe Munition aus. Etwa diese Eierhandgranaten. Etwa die Patronen für die Kalaschnikow, die wir Soldaten sonst auf dem kontrollierbaren Schießplatz zum Üben einsetzten. Im Manöver war das alles in Bewegung. Wir sprangen aus den Schützenpanzern. Wir liefen in Reihe auf einen fiktiven Feind zu. Wir warfen Granaten und wir ballerten los. Scharfe Sache, scharfe Sachen. Hinter uns liefen die Uffze und die Offze.
Das wurde, nahm ich an, so gelehrt. Dass hinter den Muschkoten die Befehler liefen und über den Angriff wachten. Bilder von hurrabrüllenden Kommandeuren, die zuerst und allen voran aus dem Schützengraben ins feindliche Feuer liefen – die waren aus schlechten Filmen. Inzwischen weiß ich – oder glaube zu wissen –, dass nicht einer der Vorgesetzten vorneweg läuft; schon weil er nicht wissen kann, ob er von vorn oder von hinten erschossen wird.
Ich erinnere mich wirklich an die Furcht der Vorgesetzten, die Abstand hielten. Es hätte einer der Gemeinen auf die Idee kommen können – ob wahnsinnig, ob berechnend –, die Waffe umzudrehen und auf einen von denen zu ballern. Auf einen von denjenigen, die uns in der Kaserne schikanierten. Es gab ein paar sadistische Wichser unter ihnen – und ich lernte, dass es Menschen gibt, die mit einem bisschen Macht über andere schlecht umgehen können. Ich glaube seit langem, dass in jedem Menschen – ich übertreibe jetzt mal ein bisschen – ein kleiner Diktator steckt; er muss nur die Chance bekommen, ihn ausschlüpfen zu lassen.
Es war, soweit ich weiß, nie vorgekommen, dass ein Soldat sich umdrehte und auf einen Vorgesetzten (Hinterherläufer) schoss. Es war, scheint mir heute, eine alles in allem „harmlose Armee“, in der redliche Jünglinge einigermaßen willig dienten, um das autobiografisch abzuhaken. War eben so. Wehrpflicht. Ließ sich machen, und warum sollte ich nicht ein Patriot sein?
Dass es einen Soldaten „erwischte“, weil er unter einem „Eisenschwein“ vor einem Rad schlief und nicht bemerkte (wie der Fahrer auch nicht), dass das Fahrzeug am Morgen losfuhr – das war ein Gerücht. Vielleicht stimmte es. Ich glaube, es wurde bei Manövern mit Toten gerechnet. Maßvoll. Ich kenne jedenfalls andere Berichte nicht.
Warum ich das alles erzähle? All diesen Schruz von anno dunnemals? Weil es mich – bei allen Veränderungen durch die Zeiten – in eine gewisse (?) Nähe bringt zu all den ukrainischen und russischen Soldaten, zu all den zerfetzten Leibern, Panzern und Häusern, zu all den zerstörten Brücken, Häusern und Leben. Zu all den Erzählungen von Verweigerungen, von idiotisch-gemeinen Kommandeuren, die als erste wegrennen, wenn Schüsse fallen. Vor allem zu den Berichten der Gräuel, die jeder Krieg mit sich bringt.
Es graust mich bei jedem Kommentar, bei jedem Bericht, bei jeder Interpretation des Krieges, seiner lokalen Schlachtungen, seiner blödgrausamen Verrichtungen. Es graust mich, weil ich mich (lernt man doch mit den Jahren?) mittlerweile vor jeder Propaganda grusele. Es graust mich, weil hinter all dem – unwiederbringlich zerstörtes Leben ist.
Es ist wieder da. Das Gefühl des Ekels. Ungewaschen, verfroren, abhängig von dämlichen Befehlen, gefüttert mit Büchsen-Mettwurst und mit Feindbildern voll – etwas zu üben, was gottlob niemals Krieg war. Wie bei denen da. Sterben in echt.
Und ich erinnere mich der Fußlappen, die ich damals als bizarr empfand. Fußlappen in Knobelbechern – das war so archaisch, dass ich mich nicht nur in einer fremden, aber halbwegs erträglichen Welt sah, sondern in einer Welt, die lange vor mir untergegangen war. Etwa so gegen 1945.
In Wikipedia lese ich, dass Fußlappen in der Nationalen Volksarmee noch bis 1968 üblich gewesen seien. Ich wickelte mit ihnen meine jungen Füße zwischen 1971 und 1973 ein. War komisch, war lästig, war nützlich. Schwamm drüber; Fußpilz hatte ich nie. Ich war ein guter Marschierer, wie ich bereits erwähnte. Vielleicht sollte ich mir wieder Fußlappen zulegen. Ich bin immer noch ganz gut zu Fuß. Der Weg in eine Sicherheit könnte weit sein.
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