25. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2022

Kasachstan im Fokus des Westens

von Wilfried Schreiber

Für den politisch interessierten Bürger ist es gar nicht so einfach, den Blick über die persönlichen Nöte der Teuerung und über den Ukrainekrieg hinaus auf andere Geschehnisse in der Welt zu richten. Beide Problemkreise wirken äußerst intensiv auf unser Denken und Handeln. Da kann es schon passieren, dass man gar nicht merkt, wie sich neues Unheil mit globaler Reichweite und Wirkung an der südöstlichen Grenzregion der Russischen Föderation aufbaut. Wir haben zwar zur Kenntnis genommen, dass unsere Außenministerin Ende Oktober Kasachstan einen Besuch abstattete, aber wir wissen nicht, was sie dazu antrieb. Offiziell hieß es nach dem Besuch, es sei um eine Energiepartnerschaft und um „grünen“ Wasserstoff gegangen – was für Deutschland tatsächlich sehr wichtig ist. Schließlich ist Kasachstan – wie auch Russland – eines der rohstoffreichsten Länder der Welt. Und stabile Wirtschaftsbeziehungen zu diesen Ländern sind elementares Lebensinteresse für Deutschland. Aber die Gestaltung dieser Beziehungen ist eigentlich Aufgabe des Wirtschaftsministers. Was bei diesem Besuch nicht unmittelbar sichtbar wurde, war die Tatsache, dass Frau Baerbock offensichtlich mit einem Keil unterwegs war, um ihn in die derzeit recht angespannten Beziehungen zwischen Kasachstan und Russland zu treiben. Schließlich ist sie von dem politischen Anspruch beseelt, Russland „ruinieren“ zu müssen.

Die Gelegenheit schien günstig; denn in russischen Medien gab es vor dem Baerbock-Besuch einige Meinungsäußerungen, die Unzufriedenheit mit der Entwicklung in Kasachstan und die Befürchtung signalisierten, dass Kasachstan nach dem Muster der Ukraine ebenfalls aus dem russischen Einflussgebiet herausgelöst werden könnte. Gemeint sind vor allem Ausführungen des prominenten Kommentators Wladimir Pawlenko und des Politik-Journalisten Ainur Kurmanow auf dem Online-Portal der Föderalen Informationsagentur IA Regnum. So stellte Kurmanow in seinem Artikel eine eskalierende Russlandfeindlichkeit in Kasachstan fest, auf die bereits Anfang des Jahres auch Pawlenko in einer politischen Analyse hingewiesen hatte. Die gewaltsamen Unruhen im Januar 2022 zur Entmachtung des „‘Nasarbajew-Jelzin-Regimes“ hätten demnach „eine subjektiv terroristische Komponente“ gehabt wie auch „objektive Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der räuberischen Politik regierungsnaher Monopolisten“ zum Ausdruck gebracht. Zugleich hatte Pawlenko auf dubiose Aktivitäten des kasachischen Staatsoberhaupts Kassym-Shomart Tokajew hingewiesen.

Ein diplomatischer Streit entzündete sich im Oktober 2022 an einer nicht respektierten Forderung Russlands nach Ausweisung eines ukrainischen Diplomaten, der öffentlich zur Tötung von Russen aufgefordert hatte. Kurmanow bezeichnet die Haltung Kasachstans, eines bisher engen Verbündeten im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), als nicht akzeptabel. Das lasse im Kreml die Alarmglocken läuten. Kasachstan habe Verpflichtungen als Schlüsselmitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ignoriert.

Ungewöhnlich scharf rechnet Kurmanow mit dem kasachischen Präsidenten Tokajew ab, dem er quasi Verrat der Interessen Kasachstans zugunsten der USA vorwirft. Er bezieht sich dabei auf Gespräche, die der Kasache im Sommer 2022 in den Vereinigten Staaten mit Politikern und Konzernvertretern geführt habe. Offensichtlich solle „die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Kasachstans von den USA“ verstärkt werden. Er verweist, wie auch schon Pawlenko, auf die Machtinteressen und die wirtschaftlich determinierten Verflechtungen zwischen den neuen und den alten kasachischen Gas- und Öl-Eliten und die Dominanz von Kapitaleigentümern aus Großbritannien und den USA.

Besorgniserregend sei auch, dass sich Kasachstan an den westlichen Sanktionen gegen Russland beteilige und die neuen „Volksrepubliken“ auf dem Gebiet der Ukraine beziehungsweise die Referenden zu deren Eingliederung in das Staatsgebiet Russlands nicht anerkennen wolle. Zu den russophoben Angriffen auf kasachischem Territorium gehöre auch die Umsetzung des „Gesetzes über die Beschilderung“, wonach alle russischsprachigen Beschriftungen in der Öffentlichkeit beseitigt werden sollen. Kurmanow zieht am Ende seines Artikels die Schlussfolgerung, dass „die Aufrechterhaltung eines retuschierten sogenannten Nasarbajew-Jelzin-Regimes in Kasachstan die Formierung eines ebensolchen Antipoden Russlands, wie ihn das Regime in Kiew darstellt, nur bereits an seinen südöstlichen Grenzen“.

Der in IA Regnum publizierte Artikel von Pawlenko „Kasachstan ist Mitglied im Unionsstaat!“ war am 15. Januar 2022 in der kasachischen Hauptstadt veröffentlicht worden – also wenige Tage nach seinem oben angeführten Kommentar aus Washington. Beide Beiträge lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass Russland die Entwicklung in Kasachstan schon längerfristig kritisch verfolgt und bereits vor dem Ukrainekrieg – und nach dem sogenannten Januar-Putsch, bei dem der Nasarbajew-Clan von den Schalthebeln der Macht verdrängt wurde – auf nationalistische Tendenzen hingewiesen hat.

Pawlenko rügt in diesem Zusammenhang vor allem die Zunahme der „westliche[n] Dominanz im Öl- und Gassektor und folglich in der gesamten Wirtschaft“. Er hebt also bereits im Januar 2022 die reale Einflussnahme des – aufgespaltenen und am Kapitalmarkt neu verknüpften – ehemaligen Rockefeller- und Rothschild-Imperiums auf die kasachische Wirtschaft hervor, die insbesondere durch die Aktivitäten von Chevron und ExxonMobil sowie die britische Shell und die französische Total Gruppe realisiert wird.

Man muss hier betonen, dass Pawlenko also schon im Januar 2022 eine Beziehung zwischen der Entwicklung der Lage in der Ukraine und der in Kasachstan erkannt hat. Er hat aber auch auf wesentliche Unterschiede aufmerksam gemacht: „Die Ukraine ist kein Mitglied der OVKS und der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SOZ); sie liegt an der Grenze zur Nato, die Russland feindlich gesinnt ist.“ Außerdem gebe es in Kasachstan keine ungelösten Probleme wie in der Ukraine. Kasachstan stehe am „Beginn des Prozesses der Integration […] in den Unionsstaat Russland und Weißrussland“

Man darf in diesem Zusammenhang durchaus daran zweifeln, dass gegenüber dem kasachischen Präsidenten Tokajew der Vorwurf des Verrats der Interessen Kasachstans, quasi des Landesverrats, zugunsten der USA berechtigt ist. Aber wie immer man die persönliche Verantwortung des Präsidenten für die genannten Entwicklungen einschätzt – unbestritten bleibt, dass die selbsterklärten Feinde Russlands aus dem „Westen“ versuchen, in der zentralasiatischen Region Einfluss zu gewinnen und die Bündnisbeziehungen Russlands zu destabilisieren.

Fazit: Es gibt in Deutschland und in der EU allen Grund, die Entwicklung in Kasachstan weiter aufmerksam zu verfolgen und eine regionale Eskalation des Konflikts im Südosten Russlands als latentes Risiko einzuschätzen, das sich auch destabilisierend auf die Lage im Umfeld der westlichen Grenzen Russlands auswirken könnte.