25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Die zentrale Randfigur

von Mathias Iven

Fällt der Name Carl Seelig, denkt man sicherlich zuerst an dessen Engagement für den Schriftsteller Robert Walser. Aus dem Bedürfnis heraus, „für die Publikation seiner Werke und für ihn selbst etwas zu tun“, hatte er im Sommer 1935 den Kontakt zu dem in einer Schweizer psychiatrischen Klinik Internierten aufgenommen. Es folgten regelmäßige Besuche, 1944 wurde er Walsers Vormund und 1957, ein Jahr nach dessen Tod, veröffentlichte er das Erinnerungsbuch „Wanderungen mit Robert Walser“.

Doch Walser war nur einer von zahlreichen Autorinnen und Autoren für die sich Seelig als Rezensent und Vermittler, Mäzen und Mentor, Leser und Freund verwendete. Vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus wurde er für viele Exilierte ein außerordentlich wichtiger Helfer und Korrespondenzpartner. Es wird geschätzt, dass Seelig im Verlaufe seines Lebens mehrere Tausend Briefe geschrieben haben muss, von denen allerdings nur einige Hundert überliefert sind. Ganz im Gegensatz dazu finden sich in seinem Nachlass weit über 10.000 an ihn gerichtete Schreiben. Pino Dietiker und Lukas Gloor haben diesen für die literaturhistorische Forschung äußerst wichtigen Fundus gesichtet, knapp 200 Stücke aus den Jahren 1915 bis 1962 zusammengestellt und kenntnisreich kommentiert. Zu den Adressaten bzw. Absendern gehören unter anderem Vicki Baum, Emmy Hennings, Jo Mihaly, Paul Nizon, Alfred Polgar, Joseph Roth, Nelly Sachs und Annemarie Schwarzenbach.

Bereits als Jurastudent trat der 1894 in Zürich als Sohn eines Textilunternehmers geborene Seelig mit ersten journalistischen und literarischen Texten in regionalen Zeitungen hervor. Und er schrieb Briefe. Namhafte Autorinnen und Autoren bat der noch Unbekannte um Auskünfte für seine journalistische Arbeit, fragte nach Autographen oder bot ihnen ungefragt seine Dienste an. In allen Fällen übernahm Seelig dabei, wie die Herausgeber betonen, „die Rolle eines zurückhaltenden Intimus, der dem Gegenüber die Zunge löst“, wie es beispielsweise bei der Arbeit an seiner in mehreren Auflagen erschienenen Einstein-Biographie geschah.

Mit seinem beherzten Auftreten knüpfte er Verbindungen, die für sein kommendes Engagement entscheidend wurden. Finanziell abgesichert durch ein stattliches väterliches Erbe konnte sich Seelig nach dem Ersten Weltkrieg voll und ganz seinen literarischen Plänen widmen. In einer 1923 erschienenen, autobiographisch geprägten Erzählung schrieb er: „Nun darf ich sein wie Andere sind: ein Träumer, ein Schwärmer, ein Dichter!“

Eines seiner ersten Projekte wurde die Herausgabe der Reihe der „Zwölf Bücher“, die, vermittelt durch Stefan Zweig, im Wiener Verlag E. P. Tal & Co. erscheinen sollte. Die Reihe, die den Ausgangspunkt zahlreicher kürzerer und längerer Briefwechsel bildete, versammelte Texte von renommierten Autoren wie Rolland, Barbusse oder Toller in bibliophiler Ausstattung für ein exklusives Publikum. Zu den Schriftstellern, die Seelig für diese Edition gewinnen konnte, gehörte neben Zweig auch Hermann Hesse. Hesse war einer der wenigen Briefpartner, die Seelig auch als Schriftsteller schätzten: So nahm er in seine 1919 erschienene Anthologie „Alemannenbuch“ vier Gedichte von ihm auf. Seelig seinerseits unterstützte Hesse als dieser seine Familie in Bern verließ und ins Tessin zog. „Und wenn Sie mich wieder brauchen, so rufen Sie!“, schrieb er ihm im Frühjahr 1919. Auch bei Thomas Mann, Franz Kafka, Robert Musil und Max Picard fragte Seelig an. Sie steuerten zwar alle keine Texte zu der Reihe bei, Letzterer wurde aber mit fast 2500 Briefen, geschrieben über die Dauer von vierzig Jahren hinweg, zu Seeligs wichtigsten Briefpartner.

Im Frühjahr 1923 endete die Zusammenarbeit mit dem E. P. Tal-Verlag. Die Reihe der „Zwölf Bücher“ erwies sich als Misserfolg und auch von einem Durchbruch Seeligs als Autor konnte keine Rede sein. Verstärkt wendete er sich dem Kulturjournalismus zu. Zudem erschienen bis 1925 acht schmale Gedicht- und Prosabände, er übersetzte mehrere Bücher, darunter Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“, und er gab zehn Anthologien heraus. In der Zeit des Nationalsozialismus nahm seine Tätigkeit als Rezensent immer breiteren Raum ein. 1944 erschienen mehr als tausend Artikel, knapp die Hälfte davon waren Rezensionen zu den Werken von mehr als 300 Autorinnen und Autoren. In seiner 1978 vorgelegten Studie „Exil in der Schweiz“ verwies Werner Mittenzwei auf die Rolle, die Seelig in diesen Jahren als einer der „unermüdlichsten Helfer deutscher antifaschistischer Schriftsteller“ spielte und er hielt fest: „Sein Name und sein Wirken müssen genannt werden, wenn vom deutschen Literaturexil die Rede ist.“ Selbst nach dem Ende des Krieges versuchte er weiterhin zu helfen. So erinnerte sich die von Seelig geförderte Schriftstellerin Erika Burkart in einem Brief an Jo Mihaly vom 2. Juni 1962: „Ihn, den Freund, auf dieser Erde zu wissen, war für mich eine Art Lebenspass, seine Existenz hat die meine, stets gefährdete mittragen helfen.“ In ihrem Nachwort fassen die Herausgeber all das hier Gesagte in einem einzigen Satz zusammen: „Carl Seelig, der Freund der Berühmten und der Vergessenen, der Helfer der Exilierten und der Internierten, der Förderer der unbekannt Gebliebenen und der erfolgreich Gewordenen, ist eine zentrale Randfigur der Literaturgeschichte.“

Nach dem Erscheinen dieser richtungweisenden Ausgabe bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass der eine oder andere Briefwechsel in absehbarer Zeit in Gänze zur Veröffentlichung gelangt.

Carl Seelig: Briefwechsel. Herausgegeben von Pino Dietiker und Lukas Gloor, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 372 Seiten, 30,00 Euro.