25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Ins Vergessen gedrängt: Oskar Stillich

von Helmut Donat

Oskar Stillich teilt das Schicksal vieler anderer Deutscher, die Ralph Giordano als Opfer der „zweiten Schuld“ bezeichnet hat. Die Erinnerung an sie und ihr Lebenswerk ist nach 1945 systematisch von jenen ausgelöscht worden, denen sie vor 1933 widersprochen haben. Oskar Stillich, am 26. September 1872 als Sohn eines niederschlesischen Mühlenbesitzers in Mettschlau bei Sprottau geboren, gehört zu den deutschen Pazifisten der „ersten Stunde“. In den 1890er Jahren beteiligte er sich am Aufbau der „Münchner Friedensvereinigung“. Nach dem Studium der Nationalökonomie und der Promotion ist Stillich vor allem als Dozent, Redakteur, Journalist und Autor zahlreicher Bücher und Schriften hervorgetreten. Als Herausgeber der Monatsschrift Die Volkshochschule war er ein eifriger Förderer des Volkshochschulgedankens. Seit 1902 wirkte er an der Berliner „Humboldt-Akademie“, der größten deutschen Volkshochschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Seine Lehrtätigkeit verband er stets mit wissenschaftlicher Forschung, die sich auf verschiedene Gebiete erstreckte. Abgesehen von vielen Artikeln und Aufsätzen in Zeitungen und Zeitschriften hat Stillich mehr als sechzig Bücher und Broschüren verfasst. Zunächst machte er auf soziale und politische Missstände aufmerksam: 1899 mit der Schrift „Die Spielwaren-Hausindustrie des Meininger Oberlandes“, 1902 mit der ersten wissenschaftlichen Studie über „Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin“, seither ein Standardwerk. Dass Stillich sich der kleinen Leute annahm, störte viele nicht, doch rief er damit auch Widersacher auf den Plan. Mit seinem Werk über die deutschen „Konservativen“ (1908) erregte er das Missfallen des preußischen Generals Colmar von der Goltz. Als glühender Anhänger des Alldeutschtums und Vertreter neudeutscher „Macht-geht-vor-Recht-Politik“ sah er in Stillichs Buch eine politisch-programmatische Tendenzschrift und ging gegen ihn vor. Doch der erste Versuch, Stillich aus dem Lehramt zu vertreiben, scheiterte am Widerstand der Dozenten- und Hörerschaft.

Den Ersten Weltkrieg begriff Stillich als eine beispiellose Minderung des Reichtums des Volkes. 1915 hielt er in der inzwischen in Zürich erscheinenden Friedens-Warte als einziger Nationalökonom der deutschen Schwer- und Kriegsindustrie deren Profite vor. Als Mitbegründer der pazifistischen „Zentralstelle Völkerrecht“ setzte er sich 1916 für einen raschen Verständigungsfrieden ein. Im Januar 1918 wandte er sich mit der Schrift „Deutschlands Zukunft bei einem Macht- und bei einem Rechtsfrieden“, dabei unterstützt von Ludwig Quidde und dem Gewerkschaftsführer Otto Huё, gegen den Annexionismus und deutsche Weltherrschaftsansprüche.

Nach 1918 zog Stillich Bilanz: „Von dem Gelde, das der Krieg direkt und indirekt verschlungen hat, hätten allen Familien der kriegführenden Länder – die Familie zu vier Personen gerechnet – Einfamilienhäuser gebaut werden können. Es ist gar nicht auszudenken, wie der allgemeine Wohlstand hätte zunehmen können, wenn der Weltkrieg vermieden worden wäre.“ Stillichs Antwort auf die Zerstörung zahlloser Glücksmöglichkeiten fiel kurz und knapp aus: „Deutschland trägt […] den entscheidenden Schuldanteil an diesem größten Verbrechen der Weltgeschichte.“

1919 plädierte er für eine „Sozialisierung der Banken“. „Die Ursachen unserer Wirtschafts- und Finanznot“ (1920) und der Ruin der deutschen Wirtschaft waren nach seinem Urteil auf die bis zur Erschöpfung aller Kräfte mobilisierte Kriegsbereitschaft zurückzuführen und nicht auf die Deutschland auferlegten Wiedergutmachungsleistungen. Damit widersprach er der weitverbreiteten Behauptung, die schlechte deutsche Wirtschaftslage sei eine Folge des Versailler Vertrags. Vor allem, so Stillich, sei sie das Ergebnis des Krieges.

Mit seinen Publikationen über das Vertragswerk übte Stillich auf große Teile der deutschen Friedensbewegung, des linksrepublikanischen Lagers sowie auf Teile der Gewerkschaften bedeutenden Einfluss aus. Er ist der einzige deutsche Gelehrte, der sich in den 1920er Jahren für eine gerechte Beurteilung des Vertragswerkes ausgesprochen hat. Neben einer Reihe von Artikeln sind zu nennen: „Der Friedensvertrag im Spiegel deutscher Kriegsziele“, „Katechismus des Friedensvertrages für Jugend und Volk“ (beide 1922) und „Deutschland als Sieger“ (1924).

„Die Bekämpfung des Vertrags“, warnte er 1922, „wie sie […] von der Presse in weitestem Umfange fortwährend geübt wird, […] bildet geradezu eine Gefahr für Deutschland.“ Die Wirkung dieser Propaganda reichte weit über die Kreise der NSDAP und Deutschnationalen hinaus. Sie beließ viele Deutsche geistig im Kriegszustand und bereitete damit dem Nationalsozialismus den Boden.

Stillich schrieb gegen die in Tausenden von Büchern, Broschüren, Artikeln, Reden und Ausstellungen dem deutschen Volk eingehämmerte Parole vom „Schanddiktat“ an: Die Lasten des Vertrags schätzte er als „gewiss hart“, aber nicht „unerträglich“ ein. Wenn die deutsche Seite behaupte, es sei unmöglich, jährlich zwei Milliarden Goldmark als Wiedergutmachung zu zahlen, so entspreche das nicht den Tatsachen. Denn allein was das deutsche Volk 1920 vertrunken und verraucht habe, hätte ausgereicht, um die für dieses Jahr geforderte Reparationssumme zu zahlen. Stillich mahnte: „Nun führe ich diese Beispiele nicht deshalb an, um daraus die Folgerung zu ziehen, dass wir in Zukunft Wasser trinken und kein Geld mehr in Rauch aufgehen lassen sollen. Diese Zahlen beweisen vielmehr, dass der nicht notwendige Konsum heute in Deutschland weit über das hinausgeht, was die Entente als Wiedergutmachungssumme jährlich fordert. Es ist lächerlich zu behaupten, das deutsche Volk sei außerstande, diese Summe zu bezahlen. Es braucht nur ihm wichtig erscheinenden Luxus wesentlich einzuschränken, und die Möglichkeit der Zahlung ist gegeben. Die Schwierigkeit liegt hier nicht darin, was vorhanden ist, sondern darin, wie es für die Zwecke der Wiedergutmachung herangezogen wird […]. Es kommt darauf an, wie wir aus unserer Wirtschaft […] unter Schonung des Menschen denjenigen Effekt durch eine rationalisierte Produktion herausholen, der nötig ist, nicht nur unseren eigenen Bedarf zu decken, sondern auch die geforderten Reparationssummen zu leisten. Das ist nicht eine Frage des Könnens, sondern des Wollens. Solange der Wille auf bloße Negationen eingestellt ist, auf den Schrei nach Revanche, auf das Ressentiment, verzetteln und vergeuden wir unsere Kraft.“

Stillich forderte im Grunde eine Revision der Revisionskampagne gegen den Versailler Vertrag. Ein Vermächtnis, über das es noch heute nachzudenken gilt.

Selbst in den anlässlich des 100. Jahrestages der Unterzeichnung des Vertrags veröffentlichten Büchern von deutschen Historikern findet sich kein Anflug von den Erkenntnissen Oskar Stillichs. Nichts wird darüber gesagt, dass die Reparationslasten nicht in erster Linie auf den Kriegsschäden beruhten, sondern auf den von der Obersten Heeresleitung im Oktober 1918 angeordneten systematischen Zerstörungen in Belgien und Nordfrankreich beim Rückzug der deutschen Truppen – im Sinne einer „Politik der verbrannten Erde“, von der heute kaum etwas bekannt ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach der politischen und moralischen Berechtigung des Vertrages und der von Deutschland zu leistenden Reparationen ganz neu.

Als „Währungsverbrecher“ bezeichnete Stillich jene Personen an den Schaltstellen der Macht, die 1923 mit dem „Ruhrkampf“ bewusst den Weg in eine Katastrophe und in den wirtschaftlichen Ruin wählten. Die Bezahlung des „passiven Widerstandes“ heizte die Inflation an. Das Ausland sollte glauben, Deutschland sei außerstande, seinen Reparationsverpflichtungen nachzukommen. Dafür nahm man eine Geldentwertung größten Ausmaßes in Kauf, die erneut zu Lasten der ohnehin durch den Krieg, den „Ruhrkampf“ und die Inflation benachteiligten und verarmten Mittel- und Unterschichten ging, während die Ruhrindustriellen riesige Subventionen erhielten. „Neben dem Krieg“, so Stillich, „ist das größte Verbrechen der letzten Zeit der von Deutschland herbeigeführte Ruin seiner Währung […] Wer in einem arbeitsreichen Leben sich etwas gespart und zurückgelegt hatte, besitzt heute nichts mehr. Alle Inhaber von Sparkassenbüchern, alle Deponenten bei den Banken, die einst gutes Geld hinterlegt hatten, sind durch die Geldentwertung beraubt und betrogen.“ Nicht von ungefähr erinnern die jüngst getroffenen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen und deren Folgen an das „Schicksalsjahr“ 1923.

Wie bereits 1912 scheiterte 1925 der Versuch deutschnationaler Kreise, den Privatgelehrten aus dem Dozentenamt der Berliner Humboldt-Akademie zu vertreiben. Seinen „Deutsch-völkischen Katechismus“ aber musste Stillich seit 1929 unter dem Pseudonym „Von einem deutschen Hochschullehrer“ publizieren. Darin zeigt er auf, in welchem Ausmaß große Teile des deutschen Volkes längst vor dem Wahlerfolg der NSDAP von 1930 von völkisch-rassistischem Ungeist durchtränkt waren und in welchen Parteien, Vereinen, Verbänden und Orden sich die kriegstreiberischen und republikgefährdenden Kräfte organisiert waren. Drei der auf zehn geplanten Bände sind bis 1933 erschienen. Der vierte über die „Deutschvölkische Religion“ war druckfertig, konnte aber nicht mehr erscheinen. Ebenso sind viele Vorarbeiten zu weiteren Aspekten des deutschvölkischen Denkens erhalten geblieben – Materialien, die offenbaren, in welchem Ausmaß sich Antisemiten, Rechtsextremisten und Rassisten gerade auf den völkischen Ungeist berufen – ganz so wie der formal aufgelöste „Flügel“ der AfD und dessen Fürsprecher.

Ein Beispiel: Bei einem Treffen des „Stahlhelmbundes“ 1929 erklärte dessen Vorsitzender Oberst a.D. Theodor Duesterberg: „Wir wollen diesen Staat, der aus Verrat und Meuterei geboren ist, wiedererobern, um einen Staat auf völkischer Grundlage herzustellen.“ Das Landgericht Prenzlau in Sachsen lehnte es am 19. Januar 1929 ab, gegen den Militaristen und Demokratiefeind im Sinne des Republikschutzgesetzes vorzugehen. Am 24. September 2017 kündigte Alexander Gauland nach dem erfolgreichen Wahlergebnis der AfD an: „Wir werden Frau Merkel – oder wen auch immer – jagen, und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen […] Wir werden dieses Land verändern.“

1933 verlor Stillich sein Lehramt. Trotz eines Rede- und Schreibverbotes setzte er sich weiter mit den Auswirkungen der völkischen Ideologie auf das Denken und Handeln des deutschen Volkes auseinander. Seine Analysen verdeutlichen, „dass der Ungeist des Nationalsozialismus nicht an die Herrschaftsperiode des Dritten Reichs gebunden war, sondern sich schon vorher in der Mentalität zahlreicher und einflussreicher Deutscher ausprägte“, so der Völkerrechtler Hans Wehberg (1947), und – ist hinzuzufügen – auch heute nicht vollends überwunden ist. Mit Hilfe seines Sohnes Stefan gelang es Stillich, obwohl krank und abgemagert, seine Manuskripte noch zu überarbeiten. Am 31. Dezember 1945 starb er – unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit – an den Folgen jahrelanger Unterernährung in Schulzendorf bei Berlin.

Sein Vorhaben, nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Studien über die Ursachen und Folgen der NS-Herrschaft einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit zu leisten, stieß auf taube Ohren. Als sein Sohn im Sommer 1953 die Manuskripte an das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München sandte, schob man die Sache auf die lange Bank und tat nichts – lehnte schließlich deren Publikation mit fadenscheinigen Ausflüchten – nach über dreieinhalb Jahren – im April 1957 ab. Zu den behandelten Themen gehören u.a.: „Die Militarisierung der Sprache und des Volkes“, „Rassentheorie“, „Reagrarisierung Deutschlands“, „Hitlers Verrat an der Kunst und Kritik an dessen Reden“, „Der Nationalsozialismus und das Heilige“ – alles auf hohem wissenschaftlichen Niveau und gut lesbar. Die kritischen Studien hätten, in den 1950er Jahren veröffentlicht, zu einer wichtigen, vielleicht sogar wegweisenden Debatte über die Ursachen und Folgen des Naziregimes führen können. Das aber wollten das IfZ bzw. jene, die damals mit Stillichs Manuskripten befasst waren, unbedingt vermeiden. Über eine der Abhandlungen urteilte der Militärhistoriker Wolfram Wette jüngst: „Stillichs Analyse der ‚Militarisierung des Volkes‘ unter der nationalsozialistischen Diktatur ist eine Entdeckung. Formuliert wurde sie bereits 1944/45 und enthält wesentliche Elemente der später entwickelten Theorie des Militärisch-Industriellen Komplexes. Stillich übersetzt die nationalsozialistische Propagandasprache in ein ziviles, wissenschaftliches Vokabular. Er legt damit unseren Blick frei auf die nationalsozialistische Fiktion einer Kriegsgesellschaft, in welcher die gesamte Bevölkerung in allen ihren Gliederungen gleichgeschaltet und dem militärischen Befehl unterworfen ist. Alle, auch die Frauen, sollten sich als Soldaten sehen und fühlen, als Glieder einer durchmilitarisierten Gesellschaft im totalen Krieg.“

Mit anderen Worten: Stillichs Schriften tragen heute noch zu einem verantwortlichen Umgang mit der deutschen Geschichte bei. Das gilt auch für seinen „Deutschvölkischen Katechismus“. Seinen Manuskripten ist zu entnehmen, dass er „für die Zeit nach 1945 eine mechanische Denazifizierung“ ablehnte. Vielmehr komme es darauf an, den „Geisteszustand, der zu jener Lehre geführt hat, von Grund aus zu beseitigen“. Davon ist in den ersten Jahrzehnten nach 1945 wenig erfolgt. Vielmehr hat sich eine „Traditionspflege“ des Volkes bemächtigt, die viel Unheil angerichtet und „gestiftet“ hat – mit Folgen, die bis heute fortwirken und deren Dimensionen bislang nicht erkannt sind. In welchem Maße uns das heute auf die Füße fällt, zeigen die zunehmenden Erfolge und das Anwachsen rechtsextremistisch und völkisch orientierter Gruppen, Vereinigungen und Parteien. Es ist hohe Zeit, dass die „Erinnerungskultur“ nicht weiter vergisst, auf welchen Schultern sie eigentlich stehen sollte.

Der Aufsatz ist die nicht zuletzt aus aktuellen Anlässen stark erweiterte Fassung eines Beitrages, den der Autor bereits in Das Blättchen 1/2016 veröffentlicht hatte.

W.B.

Stillich, Oskar / Donat, Helmut (Hrsg.): Begriff und Wesen des Völkischen, Donat Verlag, Bremen 2022, 176 Seiten, 16,80 Euro.

Oskar Stillich: Die Militarisierung der Sprache und des Volkes, Kritik der Reden Hitlers, sein Verrat an der Kunst und andere Studien zum Nation, Donat Verlag, Bremen 2022, 376 Seiten, 24,80 Euro.