von Helmut Donat
Am 31. Dezember 1945 war der Nationalökonom, Pazifist und Antifaschist Oskar Stillich (geboren 1872) – unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit – an den Folgen jahrelanger Unterernährung gestorben. Bis heute ist er weithin vergessen, obwohl oder gerade weil er wichtige Einsichten zur deutschen Politik und Geschichte publiziert hat. Noch während seines Studiums in München in den 1890er Jahren beteiligte er sich am Aufbau der „Münchner Friedensvereinigung“ und gehört damit in Deutschland zu den Pazifisten der ersten Stunde.
Stillich ist vor allem als Dozent, Redakteur, Journalist und Autor zahlreicher Bücher und Schriften hervorgetreten. Er war ein eifriger Förderer des Volkshochschulgedankens und, nach seiner Promotion, seit 1902 an der „Humboldt-Akademie“ in Berlin, der größten deutschen Volkshochschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, tätig. Seine Lehrtätigkeit verband er mit einer wissenschaftlichen Produktion, die sich auf verschiedene Gebiete erstreckte. Abgesehen von vielen Artikeln und Aufsätzen in Zeitungen und Zeitschriften, hat Stillich über sechzig Bücher und Broschüren verfasst: zu Themen der Sozial-, Staats-, Wirtschafts-, Handels- und Finanzwissenschaften, des Geld-, Bank-, Börsen- und Aktienwesens, des Sozialismus, der politischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zur historischen Entwicklung der politischen Parteien Deutschlands. Des Weiteren machte er auf soziale Missstände aufmerksam: 1899 mit der Schrift „Die Spielwaren-Hausindustrie des Meininger Oberlandes“, 1902 mit der ersten wissenschaftliche Studie über „Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin“. In diesen Arbeiten schilderte er die elende Situation und Ausbeutung der Heimarbeiter des Thüringer Waldes und der Berliner Dienstboten.
Den Krieg begriff Stillich als Minderung des Reichtums des Volkes. 1915 klärte er in der Friedens-Warte über die Profite der deutschen Schwerindustrie auf. Als Mitbegründer der „Zentralstelle Völkerrecht“ setzte er sich 1916 für einen raschen Verständigungsfrieden ein. Im Januar 1918 wandte er sich mit der Schrift „Deutschlands Zukunft bei einem Macht- und bei einem Rechtsfrieden“ gegen den Annexionismus und alldeutsche Weltherrschaftsansprüche.
Stillichs Kriegsbilanz: Allein aus Deutschland hätte man ein „soziales Paradies“ machen können, wären die für den Krieg aufgewandten Mittel für friedliche und soziale Zwecke eingesetzt worden. Entgegen noch heute weit verbreiteter Legenden von „Schliddervereinen“ und „Schlafwandlern“ konstatierte er kurz und knapp: „Deutschland trägt […] den entscheidenden Schuldanteil an diesem größten Verbrechen der Weltgeschichte.“
1919 forderte Stillich eine „Sozialisierung der Banken“. „Die Ursachen unserer Wirtschafts- und Finanznot“ – so der Titel einer 1920 erschienenen Schrift – und den Ruin der deutschen Wirtschaft führte er auf die bis zur Erschöpfung aller Kräfte mobilisierte Kriegsbereitschaft zurück und nicht auf die Deutschland auferlegten Wiedergutmachungsleistungen. Als „Währungsverbrecher“ bezeichnete Stillich die Politiker und Führungskräfte in der Wirtschaft, die im Jahre 1923 die Inflation anheizten. Um den „Ruhrkampf“ zu bezahlen und das Ausland glauben zu machen, Deutschland sei außerstande, seinen Reparationsverpflichtungen nachzukommen, nahm man eine Geldentwertung größten Ausmaßes in Kauf. Nach der Währungsreform (1924) propagierte er eine „Reform des Reichserbrechtes“. Die Sanierung der Staatsfinanzen sollte nicht erneut zu Lasten der ohnehin durch den Krieg, den „Ruhrkampf“ und die Inflation benachteiligten und verarmten Mittel- und Unterschichten gehen. Doch sein Verlangen nach einer strafrechtlichen Verfolgung der „Währungsverbrecher“ fand kaum ein Echo.
Nach 1918 schloss Stillich, bereits seit Jahrzehnten Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft, dem „Bundes der Kriegsdienstgegner“ an. Obwohl er eine führende Position in der Friedensbewegung nie anstrebte, war sein Einfluss auf den Nachkriegspazifismus von großer Bedeutung. In ihm repräsentierte er den „Gelehrten-Typus“, der seine gesamte wissenschaftliche Tätigkeit als einen Dienst für die Verbreitung von Wahrheit, Recht, Frieden und Freiheit und somit von pazifistischem Ideengut begriff. Wie bereits 1912 scheiterte 1925 der Versuch deutschnationaler Kreise, Stillich aus dem Dozentenamt der Berliner Humboldt-Hochschule zu vertreiben.
Mit seinem anonym veröffentlichten „Deutsch-völkischen Katechismus“ klärte er seit 1929 darüber auf, in welchem Ausmaß große Teile des deutschen Volkes längst vor dem Wahlerfolg der NSDAP von 1930 von völkisch-rassistischem Ungeist durchtränkt waren und in welchen Parteien, Vereinen, Verbänden und Orden sich die kriegstreibenden und republikgefährdenden Kräfte organisiert hatten. 1933 verlor Stillich sein Lehramt. Trotz Rede- und Schreibverbotes setzte er sich in einer Reihe von Arbeiten mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus auf das Denken und Handeln des deutschen Volkes auseinander. Diese noch unveröffentlichten Analysen verdeutlichen, „dass der Ungeist des Nationalsozialismus nicht an die Herrschaftsperiode des Dritten Reichs gebunden war, sondern sich schon vorher in der Mentalität zahlreicher und einflussreicher Deutscher ausprägte“ (H. Wehberg) und – so ist hinzufügen – auch heute nicht, wie Pegida und AfD offenbaren, vollends überwunden ist.
Vor allem mit seinen Publikationen über das Versailler Vertragswerk übte Stillich auf die Friedensbewegung sowie auf Teile der Gewerkschaften nachhaltige Wirkung aus. Kein anderer Deutscher hat sich wie er in den 1920er Jahren in mehreren Schriften mit dem Versailler Frieden beschäftigt und für dessen gerechte Beurteilung ausgesprochen. In seinem „Katechismus des Friedensvertrages für Jugend und Volk“ warnte er 1922: „Die Bekämpfung des Vertrags […,] wie sie […] von der Presse in weitestem Umfange fortwährend geübt wird, […] fördert weder die Gesamtheit noch einen einzigen Menschen, sondern sie bildet geradezu eine Gefahr für Deutschland.“
Stillich wandte sich gegen jene Kreise, die Deutschland wieder „wehrhaft“ machen wollten. In Tausenden von Büchern, Broschüren, Artikeln, Reden und Ausstellungen wurde dem deutschen Volk die Parole vom Versailler „Schanddiktat“ eingehämmert und für die Not und das Elend der Deutschen der sogenannte „imperialistische Gewaltfrieden“ verantwortlich gemacht. Nicht den bewusst inszenierten Angriffs- und Eroberungskrieg, sondern die Folgen des Krieges erklärte man zum Übel. Sei es in der Form einer friedlichen Revisionspolitik oder in der Spielart der wüstesten Hetze: „Versailles“ wurde abgelehnt, verteufelt und zum Ausgangspunkt der Außenpolitik der Weimarer Regierungen erhoben – von allen Parteien und mit verheerenden Folgen für die weitere Rechtsentwicklung der Republik.
Stillichs nüchterne Analyse des Friedensvertrags offenbart hingegen: Die immer noch weit verbreitete Auffassung, „Versailles“ sei schuld an dem Aufkommen und Erstarken der faschistischen Bewegung in Deutschland, erweist sich als eine Legende. Vielmehr war die Wirkung der Propaganda gegen die sogenannten „Ketten von Versailles“, verbunden mit dem Ziel, Deutschlands einstige Großmachstellung wiederzuerlangen, so tiefgreifend, dass sie weit über die der NSDAP oder den Deutschnationalen zugehörenden Teile des Volkes hinausreichte. Die Revisions- und Hasspropaganda gegen „Versailles“ beließ viele Deutsche geistig im Kriegszustand und bereitete damit dem Nationalsozialismus den Boden.
Auch in seiner Schrift „Der Friedensvertrag von Versailles im Spiegel deutscher Kriegsziele“ (1922) verdeutlichte Stillich, dass der Vertrag nicht gar so ungerecht war, wie es damals und heute behauptet wurde und wird. Er verglich „Versailles“ mit den Verträgen, die Deutschland im Jahre 1918 der Sowjetunion und Rumänien diktiert hatte. Der „Friede von Bukarest“ habe sich eindeutig daran orientiert, Rumänien unter deutsches Joch zu bringen. Im „Frieden von Brest-Litowsk“ nahm man der Sowjetunion ein Drittel des Gebietes des früheren Zarenreiches ab. Ein „deutscher Friede“ hätte sich im Falle eines Sieges von dem der Entente-Mächte grundlegend unterschieden. Vor allem diejenigen, die vor und nach Unterzeichnung der Friedensbedingungen gegen den Deutschland auferlegten „Schmachfrieden“ geschrien hätten, besäßen dazu eine politisch-moralische Legimitation; gerade sie hätten alles getan, um „Bukarest“ und „Brest-Litowsk“ zu einer Demonstration der Gewalt zu machen. Nichts hätten diese Kreise unterlassen, um einem „deutschen Frieden“ im Westen den gleichen Stempel aufzudrücken.
Die Lasten des Versailler Vertrags seien, so Stillich, „gewiss hart“, aber nicht „unerträglich“. Wenn die deutsche Seite behaupte, es sei unmöglich jährlich zwei Milliarden Goldmark als Wiedergutmachung zu zahlen, entspreche das nicht den Tatsachen: „Es ist lächerlich zu behaupten, das deutsche Volk sei außerstande, diese Summe zu bezahlen. Es braucht nur ihm wichtig erscheinenden Luxus wesentlich einzuschränken und die Möglichkeit der Zahlung ist gegeben […] Es kommt darauf an, wie wir aus unserer Wirtschaft … unter Schonung des Menschen denjenigen Effekt durch eine rationalisierte Produktion herausholen, der nötig ist, nicht nur unseren eigenen Bedarf zu decken, sondern auch die geforderten Reparationssummen zu leisten. Das ist nicht eine Frage des Könnens, sondern des Wollens. Solange der Wille auf bloße Negationen eingestellt ist, auf den Schrei nach Revanche, auf das Ressentiment, verzetteln und vergeuden wir unsere Kraft.“
Die Versailles-Rezeption in der Bundesrepublik war und ist geprägt von der Auffassung, der Vertrag habe die Nazis stark gemacht und zum Zweiten Weltkrieg geführt. In der Regel sind bislang nur negative deutsche Stimmen gegen den Vertrag veröffentlicht worden. Nicht geläufig sind hingegen die Stimmen jener Persönlichkeiten, die sich gegen die organisierte Massensuggestion, den Vertrag für die deutsche Schuld oder Alleinschuld am Ersten Weltkrieg verantwortlich zu machen, gewandt haben, so etwa Friedrich Wilhelm Foerster als der bedeutendste Gegner des nationalistisch-militaristischen Deutschlands des 20. Jahrhunderts, die Publizisten Hellmut von Gerlach, Leopold Schwarzschild und Otto Lehmann-Rußbüldt, die Schriftsteller Heinrich Mann und Kurt Tucholsky, die SPD-Politiker Eduard Bernstein, Heinrich Ströbel und Carlo Mierendorff, der Staatsrechtslehrer Hans Nawiasky, der Mediziner Friedrich Georg Nicolai, die Offiziere Hans-Georg von Beerfelde, Heinz Kraschutzki, Hans Paasche und Paul Freiherr von Schoenaich sowie Georg Friedrich Nicolai. Sie alle haben sich mehr oder minder an Oskar Stillichs Würdigung des Versailler Vertrags orientiert – ein Verdienst, das allein ausreichte, ihn in ehrender Erinnerung zu behalten.
Schlagwörter: Friedensbewegung, Helmut Donat, Oskar Stillich, Pazifismus, Versailler Vertrag