Bereits in den 1990er-Jahren konzipierte der Literaturwissenschaftler Hans-Albert Walter eine Edition mit Texten der deutschsprachigen Exilliteratur des 20. Jahrhunderts. Mehrfach unternahm er den Versuch, diese Sammlung zu veröffentlichen – ohne Erfolg. Nach seinem Tod im Jahre 2016 fanden sich auf dem Dachboden seines Hauses die von ihm in jahrelanger Forschungs- und Recherchearbeit zusammengestellten Unterlagen und Texte. Peter Graf und Ulrich Faure haben diesen Schatz gehoben. Mit dem zur Wissenschaftlichen Buchgesellschaft gehörenden Theiss Verlag als Partner haben sie Walters Projekt in der von ihm vorgesehenen Form jetzt endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Hans-Albert Walter, der heute als Doyen der deutschen Exilforschung gilt, hatte als Nicht-Akademiker einen schweren Stand innerhalb des Wissenschaftsbetriebes. Doch selbst als man ihn mit fadenscheinigen Begründungen endlich hinausgedrängt hatte, setzte er seine Arbeit als freiberuflicher Privatgelehrter unter oft wirtschaftlich prekären Bedingungen unermüdlich fort. Für die nunmehr in drei Bänden vorliegende Textauswahl sichtete er etliche Jahrgänge von Zeitschriften wie der Internationalen Literatur, der Neuen Weltbühne, dem Neuen Tage-Buch oder den Neuen Deutschen Blättern. Hinzu kamen Tages- und Wochenzeitungen wie das Pariser Tageblatt, der New Yorker Aufbau oder die Londoner Zeitung. Alles in allem mehrere Zehntausend Seiten …
Es sind knapp 150 Texte von 92 Autoren, die Walter zusammengestellt hat und die seit dem Jahrzehnte zurückliegenden Erstdruck zum größten Teil jetzt erstmals wieder veröffentlicht werden. Darunter sind Erzählungen und Novellen, Kurzgeschichten und Romanfragmente, Feuilletons und Glossen. In seiner „Kleinen Nachbemerkung zur großen Vielfalt und Weite der deutschen Literatur des Exils“ schreibt Walter: Dieser Querschnitt zeigt „den ganzen Reichtum an Formen und Ausdrucksmöglichkeiten, in denen Kleinprosa sich präsentiert“, zudem sind in der Sammlung „fast alle Stilrichtungen vertreten, die seit der Jahrhundertwende in der deutschen Literatur wirksam waren“. Und sich gegen etwaige Kürzungen im Zusammenhang mit einer Drucklegung wendend erklärte er 1997: „Die Auswahl ist ein skrupulös komponiertes Ganzes, das von der Vielfalt und Heterogenität, ja, der immanenten Gegensätzlichkeit der Texte lebt. Sinn und Zweck einer solchen Anthologie kann es nur sein, die Fülle von Widersprüchen zu dokumentieren, aus der sich die Literatur des deutschen Exils sui generis konstituiert. Sie wird nur in einem in sich geschlossenen Umgriff sicht- und für den Leser nachvollziehbar.“
Der Versuch, an dieser Stelle einen Überblick zu den inhaltlichen Schwerpunkten der in zehn Abschnitte gegliederten und mehr als 1.300 Druckseiten umfassenden Sammlung zu geben, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. So seien nur drei, auch mit Blick auf die gegenwärtige Weltlage ausgewählte Beispiele zitiert.
Wie gut kann man die Situation von Joseph Roth verstehen, der 1933 auf dem Weg ins Exil bei einer „Rast angesichts der Zerstörung“ Folgendes schrieb: „Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen. Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstab. Die Füße sind wund, das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und größer, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und dies ist eben das Trostlose.“ Selbst Ernst Ottwalts Blick zurück nach Deutschland in seinem zeitgleich entstandenen Text „Abschied“ dürfte für jeden nachvollziehbar sein: „Daß man sich noch einmal in Reih und Glied von irgendeinem Kamel kommandieren läßt, – ich hätte es nie für möglich gehalten.“ Gleichfalls hochaktuell liest sich Ludwig Marcuses 1935 veröffentlichter Artikel „Der Führer Cola di Rienzo“, in dem es am Schluss heißt: „Gefälschte Geschichte ist immerhin echte Gegenwart. Die Geschichtsdichtung sagt meist nur wenig über die historische Wirklichkeit aus – um so mehr über den Tag, der diese Dichtung hervorgebracht hat.“
Exil und Vertreibung, so die Herausgeber, „sind von trauriger (und gleichbleibender) Tagesaktualität“. Schließlich ähneln sich die „ewigwährenden Exilthemen“ wie Vertreibung, Rettung des eigenen Lebens, Sorge um die Daheimgebliebenen oder die Frage, womit die Existenz zu bestreiten sei bei jeder neuen Fluchtbewegung. Um so aufmerksamer sollte man jeden einzelnen Text von Walters Zusammenstellung lesen, dessen Lebenswerk durch die beiden Herausgeber zu einem beeindruckenden Abschluss gebracht werden konnte.
Peter Graf / Ulrich Faure (Hg.): Exil! Literarische Wortmeldungen aus deutschsprachigen Zeitschriften 1933–1950. Auswahl und Nachwort von Hans-Albert Walter, wbg Theiss, Darmstadt 2022, 1357 Seiten (3 Bde.), 99,00 Euro, ab 1.7.2023 149,00 Euro.
Schlagwörter: Ernst Ottwalt, Exil, Hans-Albert Walter, Joseph Roth, Mathias Iven