25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Anmerkungen zur Freiheit

von Bruni Butzke

Angesichts der neuerlichen Montagsdemonstrationen sind die Großmedien bemüht, die Sache als solche möglichst madig zu machen. Was vor allem nach den schönen Vereinigungsfeierlichkeiten wieder angesagt war. Einerseits wird moniert, es würden „rechte und linke Gruppen“ – Gruppen, nicht etwa Parteien oder Organisationen – dazu aufrufen. Außerdem würden sich „Rechte“ und „Linke“ nicht über die Ziele einigen können. Zugleich wird den heutigen Demonstranten vorgeworfen, sie würden das Label „Montagsdemonstration“ missbrauchen, denn das stehe doch für 1989 und Demokratisierung, Reisefreiheit und Ende der Unterdrückung.

Einer Kolumnistin (Berliner Zeitung, 04.10.22) dämmerte jedoch, es könne „den meisten, die hier mitlaufen, […] um ganz normale Dinge [gehen]: die nächste Heizkostenabrechnung, den eigenen Job, die hohen Preise“. Sie anerkennt, dies seien „Sozialproteste“, und dafür müsse es den Menschen nicht wirklich schlecht gehen, es reiche, dass „es ihnen bald sehr schlecht gehen könnte“. Dies aber sei kein Ostproblem, sondern auch eines im Westen.

Dann wird allerdings auf subtile Weise versucht, auch dies negativ zu konnotieren – als „Verunsicherung“, die so beschrieben wird: „Da sind zum Beispiel jene Menschen, die Holz im Wald sammeln und sich in ihrem Keller gerade gegen Blackouts beim Strom und Gas rüsten. Man findet sie in Ost wie West und zunehmend auch im Bekanntenkreis. Ihre Regalbretter und Vorratsschränke sind bereits voll. Also wird das, was weiter an Lebensmitteln in großen Mengen gekauft wird, erst mal auf dem Boden gestapelt. Dosen mit Eingekochtem, Fertiggerichte, haltbare Milch, Mehl, Reis, Nudeln, Öl, Zucker, Salz. Es werden Plastikboxen besorgt, um all das zu verstauen, Kanister für Trinkwasser und Briketts für den Kaminofen. Holzscheite stapeln sich an den Wänden entlang. Zum Kochen wird eine Gaskartusche parat gehalten und für den Ernstfall ein Stromgenerator.“

Die Pointe des Textes: die Regierung solle ihre gute Politik besser erklären.

Das aber ist nicht das wirkliche Problem. Wer 1945 in einer zerbombten Stadt noch immer eine halbwegs bewohnbare Wohnung hatte, mit abgedichtetem Dach und geschlossenen, vielleicht zunächst nur zugenagelten Fenstern, hatte in der Regel einen Ofen im Wohnzimmer. Den konnte er unabhängig davon heizen – mit gesammeltem Holz oder gestohlenen Briketts –, ob es elektrischen Strom oder Gas gab. Wenn heute der Strom ausfällt, gibt es nicht nur kein elektrisches Licht, sondern auch keine warme Heizung, keine Kochgelegenheit – sofern man keine Gaskartusche hat – und kein fließend Wasser. Selbst die vielgelobte Wärmepumpe braucht einen Antrieb, der mit Strom oder Gas beziehungsweise Öl betrieben wird. Die Fernheizungsanlagen der Stadtwerke drohen bei Erdgasmangel auszufallen. In Brandenburg sollen Turnhallen eingerichtet werden, die weiter beheizt werden und wohin die Bürger aus ihren kalten Wohnungen flüchten können.

Ein alter Mann sagte einst zu mir: Man sei nur wirklich frei, wenn man alle Bedingungen, die man zum Leben braucht, selber produzieren kann.

Das war idealerweise der Bauernhof mit eigenem Acker, mit eigener Tierhaltung und den entsprechenden Verarbeitungs- und Lagerkapazitäten. Das funktionierte ursprünglich ohne Strom, Gas, Öl und ohne Wasserleitung. Die Unfreiheit der Menschen war relativ: Sie mussten von morgens bis abends schuften, waren aber frei im Sinne von unabhängig von äußeren Umständen. Um die Plackerei zu reduzieren, wurden immer mehr dieser Bedingungen vergemeinschaftet; heute sind wir abhängig von elektrischer Energie, Wasser- und Abwasserversorgung, Fernheizung, Gasleitungen, Telefonnetzen und Internet. Diese Abhängigkeit besteht unabhängig davon, ob hinter diesen Netzwerken kapitalistische Profitmaximierer, Genossenschaftler, kommunale Stadtwerke oder sozialistische Betriebsleiter stehen. Alle diese Systeme sind störanfällig und den Praktiken, Sichtweisen und Interessen ihrer Betreiber unterworfen.

Um unter diesen objektiven Bedingungen Resilienz, wie es modisch so heißt, zu sichern, bedarf es einer gut funktionierenden Regierung und Verwaltung, stabiler materieller und finanzieller Grundlagen und eines Grundvertrauens zwischen Regierten und Regierung. Wenn in Japan die Folgen eines Erdbebens bewältigt werden, kann man auch international beobachten, wie das funktioniert. Der Shinkansen, der japanische Hochgeschwindigkeitszug, fährt seit 1964 immer pünktlich, und es gab noch nie einen Unfall mit Todesfolge.

In Deutschland fahren nicht nur die ICEs unpünktlich. Die Verwaltung funktioniert, weil sie kaputtgespart wurde, in der Regel entweder nicht oder nicht effektiv. In Berlin können sie nicht einmal Wahlen, die angeblich das „Hochamt der Demokratie“ sind. Die Regierung hat Minister, die ihr Handwerk nicht beherrschen und Insolvenzen mit Betriebsferien verwechseln. Ein krebsartig ausgeufertes Rechtswegesystem, bei dem jeder Spießbürger nach dem Sankt-Florians-Prinzip Bauvorhaben und öffentliche Angelegenheiten blockieren und sich durch zig Instanzen klagen kann, verunmöglicht das Staatshandeln zusätzlich. Der ständige Kompetenzenstreit zwischen Bundes- und Landesebene sowie EU tut ein Übriges.

So hat das Misstrauen der Bürger gegen die da oben viele gute Gründe. Und wird durch die Folgen eines beispiellosen Wirtschaftskrieges gegen unseren bisher wichtigsten Energielieferanten – eine Idee, die man für die gesamte Geschichte des Kalten Krieges vergeblich sucht – weiter vertieft. Das Stapeln von Konservendosen und das Demonstrieren sind lediglich Folgen davon.