So vergeht Jahr um Jahr / Und es ist mir längst klar /
Daß nichts bleibt daß nichts bleibt wie es war.
Hannes Wader
Wer in einer begrenzten Welt an unbegrenztes
exponentielles Wachstum glaubt, ist entweder ein
Idiot oder ein Ökonom.
Kenneth Boulding
Am 24. Februar griff Russland die Ukraine an und am 27. Februar verkündete Kanzler Scholz im Bundestag eine „Zeitenwende“. Eine Frage drängt sich auf – warum führte erst die russische Aggression gegen die Ukraine zu dieser Reaktion? Das heißt – zu einer Zeitenwende. Hätte eine solche nicht schon viel früher ausgerufen werden müssen? Oder wenn schon so spät – hätte Scholz den Begriff nicht viel weiter, übers Militärische hinaus, fassen müssen? Denn die Menschheit verfolgt seit Jahren ein Konflikt planetarischen Ausmaßes – der zwischen dem sich naturgesetzlich zuspitzenden Klimanotstand und dem auf seiner naturzerstörerischen Höhe beharrenden, wenn nicht weiter ausufernden Lebensstil ebendieser Menschheit. Wobei festzuhalten ist, dass die Ausbeutung des globalen Südens immer noch dem globalen Norden einen Lebensstandard sichert, der – sollte er auch im Süden Raum greifen – wohl drei Erden mit all ihren natürlichen Ressourcen erforderte. Daher ist dieser Norden aufgefordert, voran zu gehen beim Schließen der Schere zwischen Naturnotwendigkeiten und westlicher Lebensführung.
In Russlands Krieg geht es nicht nur um Artilleriefeuer und Drohnenangriffe; in diesem Krieg geht es auch um die Manipulation von Energie- und Nahrungslieferungen durch Boykotte und Gegenmaßnahmen, die die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehen. Namentlich von ersteren ist auch Deutschland betroffen. Seit kurzem gilt, was einschlägige Organe mit den großen Buchstaben als „Habecks Energiesparhammer“ oder „knallharte Verbote“ denunzieren; Leuchtreklame darf nach 22 Uhr nicht mehr leuchten, Ladentüren dürfen nicht mehr offen stehen, in Amtsstuben und Büros wird es kälter …
Auf der anderen Seite wird insbesondere Kanzler Scholz nicht müde, immer wieder zu beteuern, dass niemand davon betroffen sein sollte, dass die Regierung alles tun werde, um die Härten der Energie- und Lebensmittelpreiserhöhungen abzufedern. Mit diesem Ziel schnürt die Koalition Rettungs- und Entlastungspakete, verteilt Geld und macht Steuersenkungsversprechen; man blickt schon nicht mehr richtig durch, aber alles nach dem Motto: You’ll never walk alone.
Derartige Formulierungen sind geeignet, beim Publikum den Eindruck zu erwecken, dass nach dieser kriegsbedingten Ausnahmesituation wieder eine gewisse „Normalität“ einkehrte, dass alles oder mindestens vieles wieder so würde, wie wir es gewohnt sind. Auf die Frage, ob er nicht den Menschen jetzt auch sagen müsse, dass wir nie mehr in den „günstigen“ Zustand von vor dem Angriffskrieg Russlands kommen werden, widerspricht Scholz: „Das wäre sogar falsch, wenn man die längere Perspektive in den Blick nimmt.“ Eine höchst fatale Behauptung. Gerade wenn „wir die längere Perspektive in den Blick nehmen“ ist es zwingend, sich klar zu machen: Ein Zurück zum Status quo ante wird es nicht geben.
Ich bin der Meinung, dass wir nicht nur hierzulande, sondern weltweit vor der Zeitenwende stehen. Oder besser – standen. Eigentlich haben wir sie schon verschleppt; die desaströsen Wetterphänomene auf allen Kontinenten deuten schon auf einen weit fortgeschrittenen Klimawandel hin. Ein radikales Umdenken ist das Gebot der Stunde. Die Beharrungskräfte dagegen sind enorm. Und noch immer liegt die Beweislast auf der falschen Seite: Menschen, die tiefgreifende Veränderungen fordern und das öl- und gasgetriebene Wirtschaftsmodell infrage stellen, müssen diese Notwendigkeit viel stärker argumentativ rechtfertigen als diejenigen, die den Status quo verteidigen. Deshalb – nochmals – sind Scholz’ Worte so fatal; sie stärken die Falschen.
„Umdenken“, „Beweislast“, „argumentativ“ – all diese Begriffe zeigen, dass wir es mit einem kulturellen Problem zu tun haben. Der Naturnotwendigkeiten negierende Blick wurde über Jahrhunderte gestärkt und gefestigt; er muss ersetzt werden durch andere Perspektiven. Es gilt die Ansichten zu eingefahrenen Strukturen und Vorstellungen zu ändern. Zu diesen gehört an zentraler Stelle der Fetisch, unsere Wirtschaft müsse immer „wachsen“. Wie hartnäckig dieser Glaube selbst bei Kritikern der beständigen Steigerung des Bruttosozialproduktes verwurzelt ist, zeigt sich daran, dass sie von „Nullwachstum“, „qualitativem“ oder „grünem Wachstum“ reden; sie also meinen, ohne den Wachstumsbegriff nicht auskommen zu können. Andere meinen durch die Verwendung dieser semantischen Hülsen sogar den Konflikt zwischen wirtschaftlichen, auf Zuwächse rekurrierenden Zielen und der Nachhaltigkeit, der natürlichen Regenerationsfähigkeit der Medien wie Wasser, Böden oder Luft schon „gelöst“ zu haben.
Dass jedwede Produktion nicht nur die Gütermenge steigen lässt, sondern auch die der Emissionen und Abfälle, ist eine Binsenwahrheit. Desgleichen, dass dadurch die Bestände an Rohstoffen und Ressourcen abnehmen. Möglicherweise weniger klar ist, dass wir Menschen dadurch auch die Natur als unseren ureigenen Lebensraum und sowie den von Pflanzen und Tieren immer weiter beschneiden; namentlich in die Habitate letzterer eindringen. Die Verbreitung von Covid 19 und der Affenpocken sind aktuelle beredte Beispiele für diesen Zusammenhang.
Diese Überlegungen müssten, um sie im Verständnis des oben angemahnten kulturellen Wandels fruchtbar zu machen, in eine sinnstiftende Erzählung münden, die die Art und Weise, wie wir Umwelt und uns darin wahrnehmen, grundlegend ändert. Warum nicht anstelle des allgegenwärtigen Konsums das Leben setzen? Nicht Konsum und noch mehr Konsum, sondern „Leben in vollen Zügen!“ Wir bewohnen noch immer eines der reichsten Länder der Welt. Gesellschaftlich haben wir einem Zustand von Überproduktion und Überkonsum erreicht. Wir sind (immer noch) mehr als sicher versorgt; sicherer als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Damit verkenne ich nicht, dass es auch hierzulande bislang wachsende soziale, wirtschaftliche und politische Verwerfungen gibt, die im Zuge der Herstellung ökologischer Nachhaltigkeit unbedingt durch soziale und gesellschaftliche Leistungen wie gerechte(re) Einkommensverteilung und Festigung demokratischer Strukturen über unsere Generation hinaus „repariert“ werden sollten. Trotzdem – alles in allem muss es auf dem Niveau unseres gesellschaftlichen Konsums doch möglich sein, etwas „kürzer zu treten“.
Jedoch – weit gefehlt. Entgegen der von den Sozialwissenschaften gut erforschten Tatsache, dass noch mehr shoppen und konsumieren uns nicht glücklicher macht, verharren (zu) viele Menschen immer noch im Hamsterrad von (Mehr)Arbeit und Selbstausbeutung, um ihren Konsum und vermeintlichen Wohlstand weiter steigern zu können. In einem derartigen gesellschaftlichen Klima sind „Weniger“ oder gar „Verzicht“ weiterhin politische Tabuworte. Dabei kann „Weniger“ durchaus „Mehr“ sein; ein Mehr an Lebensqualität durch Entschleunigung namentlich der Arbeitswelt, ein Mehr an Beziehungen, an Teilhabe, des Umgangs miteinander, des Sich-Einlassens auf die (menschliche) Natur, um damit gesünder zu leben … Auf diesen Feldern können wir unbedenklich „wachsen“, ohne dass uns das zusätzliche Rohstoffe kostet und dass die Erde vermüllt wird.
Die zukünftigen wirtschaftlichen Kraftanstrengungen müssen angesichts des sich abzeichnenden Mangels selbst so grundlegender Ressourcen wie Wasser vor allem darauf gerichtet sein, deren weitere Verfügbarkeit sicherzustellen; Wasser steht hier pars pro toto. Ähnlicher Herkulesarbeit bedarf es, unsere Infrastruktur im wahrsten Sinne des Wortes „wetterfest“ zu machen; die verheerende Flut im Ahrtal vom Juli 2021 lehrt das. Städte müssen zu „Schwämmen“ werden, Wälder „umgebaut“ werden …
Gerade hörte ich Radio eine Moderatorin fragen: „Wo bleibt denn die Klimahymne, in die alle einstimmen können“ – ja, wo bleibt sie? Anstelle des Songs You’ll never und so weiter …
Schlagwörter: Energie, Klimawandel, Lebensstandard, Russland, Stephan Wohanka