Im Oktober 1988 trafen Michail Gorbatschow und Polens frischgebackener Ministerpräsident Mieczysław F. Rakowski in Moskau zusammen. Im Mittelpunkt des Gespräches standen einerseits die die mit der Perestroika zusammenhängenden Fragen und Probleme, vor allem aber die stürmischer werdenden Entwicklungen in Polen. Dort hatte eine heftige Streikwelle jüngst in den Augusttagen die Führungsriege der PVAP um Wojciech Jaruzelski gedrängt, einen Weg der Öffnung gegenüber der verbotenen „Solidarność“-Opposition zu suchen, der schließlich mit den Gesprächen am Runden Tisch, die im Februar 1989 beginnen werden, auch gefunden wurde. Rakowski war nun im Herbst 1988 Jaruzelskis wichtigster Mann, beide rechneten fest mit Gorbatschows Unterstützung. Der Sowjetführer seinerseits konnte in den Polen seine verlässlichsten Verbündeten im eigenen Machtbereich sehen, wenngleich die politisch bereits angeschlagen waren. Gorbatschow damals im Kreml zu Rakowski: „Wir müssen zusammen die nächsten drei, vier Jahre überstehen.“
Ein ganzes Jahr später trafen Gorbatschow und Rakowski erneut im Kreml zusammen – am 11. Oktober 1989. Rakowski kam diesmal bereits als ein geschlagener Mann nach Moskau. Die Entwicklungen nach den im Frühjahr 1989 getroffenen Entscheidungen am Runden Tisch waren aus Sicht der PVAP-Führung weitgehend aus dem Ruder gelaufen. Die Parlamentswahlen am 4. Juni 1989 hatten eigentlich auf eine zuvor abgesprochene Machtteilung mit der Opposition hinauslaufen sollen, wobei die PVAP in der Regierungsverantwortung bleiben wollte. Stattdessen schaffte es „Solidarność“ in der in jeder Hinsicht freien Wahlkampagne, den Wahlen einen plebiszitären Charakter zu verleihen. In dem frei gewählten Oberhaus, dem neugeschaffenen Senat, dessen 100 Sitze ausschließlich den Gewinnern der Wahlkreise gehören, gelang „Solidarność“ der aufsehenerregende Durchmarsch. Und im Sejm scheiterte die an sich fragliche Konstruktion einer gesonderten 35-köpfigen Regierungsliste, die den Regierungserhalt auf jeden Fall absichern sollte. So war auch Rakowski auf der Strecke geblieben, hatte jetzt den Anschluss an die über die Legislative laufende Politik verloren. Dass er im Juli 1989 als Erster Sekretär die Parteiführung von Jaruzelski übernommen hatte, wird kaum noch eine wesentliche Rolle spielen. Ihm wird in dieser Funktion schließlich nur noch übrigbleiben, die PVAP zu der im Januar 1990 erfolgenden Selbstauflösung zu führen.
„Wer hat uns die Suppe eingebrockt?“, fragte Gorbatschow den Gast aus Warschau nun enttäuscht im Oktober 1989: „Es sollte doch ganz anders kommen, was ist da schiefgelaufen?“ Rakowski holte weit aus, erklärte dies, erklärte jenes. Schließlich wechselte das Gespräch hinüber zur sowjetischen Seite. Gorbatschow sagte, die „Perestroika verläuft in der Sowjetunion mit enormen Schwierigkeiten. Wir nehmen die Gefahren und die dunklen Wolken wahr, die sich über uns zusammenschieben. Doch es gibt kein zurück. Wir haben nichts, wohin wir zurückkönnten. Wir sind eine reiche Großmacht. Wir haben alles, was in der modernen Welt gebraucht wird. Wir sind zu einer militärischen und wirtschaftlichen Macht emporgewachsen. Doch den Menschen geht es schlecht. Sie wollen so nicht weiterleben.“ Im weiteren Gesprächsverlauf ging der sowjetische Staats- und Parteichef tiefer auf bestimmte Ursachen ein: „Ich befürchte, dass mich das Politbüro zwingen wird, einen Ablaufplan für die Perestroika vorzulegen. Sie drängen ständig darauf. Sie wollen nach Plan handeln und kontrollieren. Was aber ist Perestroika? Eine Bewegung in der Gesellschaft, nicht in der Regierung. Die Gesellschaft verhält sich wie ein Auto, das auf Eis fährt. Es schlingert. Die Regierung kann unter solchen Bedingungen nicht frei lenken, Gas geben und bremsen. Es muss geduldig abgewartet werden, bis die Autoreifen festen Grund greifen. Erst dann kann die Fahrtrichtung bestimmt werden. Doch das Politbüro will Ordnung und einen Plan. Jetzt schon.“
Noch wähnte Gorbatschow sich fest im Sattel, er suchte beim Gegenüber die Zusicherung, dass die PVAP ein wichtiger Faktor im innenpolitischen Spiel Polens bleiben werde. Die bisherige Staatspartei sozusagen als Scharnier der künftigen bilateralen Beziehungen zwischen Moskau und Warschau, auch um das gesamte Vorgehen der ab nun von „Solidarność“ geführten Regierung gegenüber Moskau wenigstens in einem sicheren Korridor einhegen zu können. Rakowski aber ist sich längst bewusst, dass das System, wie es in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, historisch verloren hatte. Und noch stand der Mauerfall in Berlin bevor, das offenkundige Zusammenbrechen der DDR. Rakowski warf noch einmal ein, dass europäische Sicherheit, darunter die für Polen so wichtige Absicherung der Oder-Neiße-Grenze, ohne die Sowjetunion gar nicht vorstellbar sei.
Wie schnell danach die Richtungen wegen der dynamischen Entwicklungen auseinandergingen oder auseinandergehen mussten, mag die letzte Begegnung zwischen Gorbatschow und Rakowski in dem stürmischen Jahr anzeigen. Rakowski reiste jetzt innerhalb der polnischen Delegation nur noch als eine Art Feigenblatt mit zur Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Warschauer Vertragsstaaten, die am 4. Dezember 1989 in Moskau abgehalten wird. Aus Sicht der neuen Regierung hatte er als Chef einer politischen Partei ohne Regierungsfunktion eigentlich keine Legitimität mehr zur Teilnahme, wiewohl in Moskau der Gastgeber nicht zusätzlich brüskiert werden sollte. Rakowski trifft dort auf einen psychisch sichtlich angeschlagenen Egon Krenz, hält in seinen Notizen Gorbatschows Bemerkung fest: „Die DDR wird als Festung des Sozialismus fallen.“ In einer Tagungspause kam Gorbatschow auf Rakowski zu: „Mieczysław, denke daran, unsere sozialistischen Ideen haben Zukunft.“ Die illusionslose Antwort: „Die Ideen sicherlich, doch wir nicht.“
Die Zitate übersetzt aus Mieczysław F. Rakowski: Dzienniki polityczne [Politische Tagebücher], Band 10. 1987–1990, Warschau 2005.
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