Der Titel des Buches führt in die Irre: „Harzwölfin“. Innerlich aufstöhnend tippte ich zuerst auf einen der üblichen Regionalkrimis. Das ist es mitnichten. Dahinter verbirgt sich eine einfühlsam und mit großer Sachkunde geschriebene Monografie über die Quedlinburger Künstlerin Dorothea Milde. Verfasser ist Reimar F. Lacher, profunder Kenner der Kunstlandschaft Harz. Das Buch ist der Begleitband einer umfangreiche Milde-Werkschau im Halberstädter Museum Gleimhaus. Das Museum hütet den Nachlass der Künstlerin, den diese noch zu Lebzeiten dem Haus übergab. Er wäre sonst wohl mit großer Wahrscheinlichkeit untergegangen. Die Ausstellung selbst ist Bestandteil des vom Gleimhaus veranstalteten Themenjahres „Frauen und Künste“ 2022/2023, das wiederum vom 300. Geburtstag der Dichterin Anna Louisa Karsch, der „Karschin“, am 1. Dezember 2022 inspiriert wurde.
Der Name Dorothea Milde dürfte auch unter Kunstkennern kaum bekannt sein. Die Künstlerin wurde 1887 in Breslau geboren. Euphemistisch gesagt, durchlebt sie schwierige Kinder- und Jugendjahre und sucht schon früh auch ökonomisch auf eigenen Füßen zu stehen. In Preußen bot sich da für Frauen eigentlich nur der Lehrerinnenberuf an – Milde absolviert das Zeichenlehrerseminar in Breslau und legt wegen eventuell besserer Einstellungschancen auch noch das Turnlehrerinnenexamen ab. Dennoch macht sie in den wenigen Jahren nach dem Ende ihrer Ausbildung eine halbe Odyssee durch, ehe sie 1910 eine Anstellung als Zeichenlehrerin am Lyzeum in Quedlinburg findet. Sie bleibt dann bis zu ihrem Ableben 1964 in der Stadt. Das Lehrerinnendasein endet aufgrund einer unheilbaren Gehörerkrankung 1929. Ihre künstlerische Arbeit kommt 1924/1925 zum Erliegen. Die letzten 35 Jahre ihres Lebens verbringt sie durchaus erfolgreich mit Hundezucht, aber unter erbärmlichen Umständen vor den Toren der Stadt hausend. Ganz am Ende ihres Lebens verhelfen ihr immerhin Berliner Kunst- und Menschenfreunde um den Wochenpost-Gerichtsreporter Rudolf Hirsch und dessen Ehefrau Rosemarie Schuder zu einem menschwürdigeren Unterkommen. Stadt und Landkreis Quedlinburg hatten im Falle Milde vollkommen versagt. In der Stadt galt sie den meisten als schrulliges Orginal, von dessen künstlerischem Wirken man allenfalls hatte raunen hören.
Dabei war Dorothea Milde eine begnadete Landschaftszeichnerin. Ich meine, sie gehört zu den Merkposten dieser Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Dabei arbeitet sie sowohl von Sujet als auch der Zeichentechnik her beim ersten Ansehen durchaus konventionell. Akkurat gezeichnete Landschaftsbilder aus dem Harz und der Norddeutschen Tiefebene, Architekturansichten vor allem aus Quedlinburg wirken auf den Betrachten anheimelnd-vertraut, eher heimatkunstmäßig als modern, wie der Untertitel von Buch und Ausstellung suggerieren. Dass die Künstlerin mit der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts nichts am Hut hatte, muss dann im Text selbst der Autor einräumen. Milde teilt durchaus die Ablehnung von Moderne und industriell geprägter Gesellschaft, wie sie Ferdinand Avenarius und Paul Schultze-Naumburg – letzterer schaffte es bis auf Hitlers „Gottbegnadeten“-Liste – in ihren Schriften predigten. Allerdings ist ihr Heimatbegriff stark landschaftlich geprägt und nimmt im Laufe der wenigen Schaffensjahren stark anthropomorphisierende Züge an. „Gestern hatte ich ein Motiv, das ich stark symbolisieren konnte“, vertraut sie am 20. Mai 1920 dem Tagebuch an. Sie zeichnet keine Menschen, sie verlegt sich auf Bäume. Aber was für Bäume! Die geheimnisvollen „Weiden am Bache“ (1914), „Die Edeltanne“ (1915) oder auch die um 1917/1918 entstandenen Zeichnungen der Harzlandschaft rund um Friedrichsbrunn. Man versuche einmal tauenden Schnee zu zeichnen! Dorothea Milde konnte das mit wenigen Strichen. Wenn sie allerdings ihre „Edeltanne“ auf einer Lithografie 1918 mit „Im Sturm standhalten“ titelt, ist das schon eine politische Aussage einer ansonsten sich mit politischen Äußerungen zurückhaltenden Künstlerin.
Ab 1920 wendet sie sich stärker als bislang der Farbe zu. In einem autobiographischen Abriss räumt sie ein, dass die frühen Arbeiten von einer psychischen Schwere überlagert waren: „Die Schwere war so groß, dass ich alle meine Arbeiten zu schwer, zu schwarz zeichnete.“ Das norddeutsche Licht bringt sie zu anderen Lösungen. Nur, das Werk wird mitten im Reifen abgebrochen. Es lohnt sich, das Geschaffene genauer zu betrachten.
Reimar F. Lacher: Harzwölfin. Die Quedlinburger Expressionistin Dorothea Milde (1887–1964), mitteldeutscher verlag, Halle (Saale) 2022, 188 Seiten, 26,00 Euro.
Die gleichnamige Ausstellung zeigt das Gleimhaus. Museum der deutschen Aufklärung noch bis zum 25. September 2022 (Domplatz 31, 38820 Halberstadt).
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Die starke Sehnsucht zum Naturerlebnis teilt Dorothea Milde mit dem fast altersgleichen Erich Heckel (1883–1970). Heckel war Mitbegründer der „Brücke“. Ich schätze ihn wegen seiner überaus sensiblen, im Strich festen, aber dennoch die Dargestellten psychologisch tief auslotenden Mädchen- und Frauenportraits. Allein die ab 1909 entstehenden „Fränzi“-Arbeiten sind ein Universum für sich.
Dass Heckel Landschaften malte, dürfte bekannt sein. Die an den Moritzburger Teichen bei Dresden entstandenen Bilder, die Arbeiten aus Dangast am Jadebusen oder auch von der Flensburger Förde gehören zu den Stilikonen des deutschen Expressionismus. Überwältigend jedoch war für mich die Begegnung mit einem förmlichen Konvolut seiner Zeichnungen und Aquarelle im Kunsthaus Avantgarde in Apolda. Das zeigte bis zum 11. September „Aquarelle und Zeichnungen aus sechs Jahrzehnten“ aus dem Bestand des Erich-Heckel-Nachlasses in Hemmenhofen (Bodensee). Nun macht es wenig Sinn, eine abgelaufene Ausstellung zu besprechen – hier verhält sich die Sache etwas anders. Es gibt ein von der Ausstellungskuratorin Nadine Stephan vorzüglich erarbeitetes – und in hervorragender Qualität gedrucktes – Katalogbuch und die Exposition wird ab 1. Oktober 2022 ein weiteres Vierteljahr im KirchnerHAUS Aschaffenburg zu sehen sein.
Gezeigt werden allerdings nicht nur Landschaften, zu sehen sind auch Porträtzeichnungen, ebenso Arbeiten, die während des Ersten Weltkrieges entstanden. Heckel durchlebte ihn fast die gesamte Zeit als Sanitäter in Flandern. Zu sehen sind die Zirkusaquarelle des Jahres 1932 und in Korrespondenz zu den jeweiligen „Zeitschnitten“ Selbstporträts. Das des Jahres 1937, ein fast monochromes, in Brauntönen gehaltenes Aquarell, brannte sich mir ein. Nadine Stephan spricht vom „Schicksalsjahr der Moderne in Deutschland“ – Heckel erhält Ausstellungsverbot, das von den Nazis allerdings selbst aus ideologischen Gründen „unterlaufen“ wird. Seine Bilder sind fester Bestandteil der Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“. Aus den Museen und öffentlichen Sammlungen des Reiches werden fast 780 seiner Arbeiten entfernt, viele davon sind unwiderbringlich verloren. Bei dieser „Auskehr“ – in Thüringen schon seit 1930! – besonders unrühmlich hervorgetan hatte sich übrigens der von Dorothea Wille verehrte Paul Schultze-Naumburg, der die Moderne im Freistaat mit geradezu pathologischer Zerstörungswut verfolgte.
Von da ab „macht“ auch Erich Heckel fast nur noch „Landschaft“. Ihm gelingen eindrucksvolle Arbeiten. Dass er zum Beispiel im Winter 1940 im Erzgebirge verschneite, fast abgestorben erscheinende Felder und Gärten aquarelliert, halte ich nicht für einen Zufall. Hier macht sich eine Analogie zu Milde auf. Die zeichnete ihre verschneiten, lebensbedrohlichen Schneelandschaften des Harzes im Winter 1916/17. Landschaft war für Heckel allerdings nicht nur Fluchtpunkt. Im Januar 1914 hatte Eberhard Grisebach, der Geschäftsführer des Jenaer Kunstvereins, Heckel im Berliner Atelier besucht. „Rückkehr zur Urnatur ist seine Sehnsucht“, schreibt Grisebach in einem Bericht nach diesem Besuch. Einbezogen in die Bildfindungen sind zu dieser Zeit noch badende und tanzende Körper. Die verschwinden aus den Landschaftszeichnungen ab 1920 fast völlig. Der Künstler wendet sich ab dato intensiv wie nie zuvor der Natur zu. Das Ergebnis wird man in Aschaffenburg sehen können. Ich empfehle das exzellente Katalogbuch.
Erich Heckel. Aquarelle und Zeichnungen aus sechs Jahrzehnten, KirchnerHAUS Aschaffenburg, Ludwigstraße 19, 63739 Aschaffenburg; 1. Oktober 2022 bis 8. Januar 2023. Katalogbuch herausgegeben von Nadine Stephan für den Kreis Weimarer Land und das KirchnerHAUS Aschaffenburg, Apolda 2022, 144 Seiten, 19,00 Euro.
Schlagwörter: Dorothea Milde, Erich Heckel, Expressionismus, KirchnerHAUS Aschaffenburg, Nadine Stephan, Wolfgang Brauer, Zeichnungen