25. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2022

Dichten unter widrigen Verhältnissen und Leben als ob

von Wolfgang Brauer

Er gehört zu den frühen Schaubühne-Autoren. Siegfried Jacobsohn veröffentlichte im 2. Jahrgang 1914 des Blattes das Gedicht „Heimkehr“: „So wird es sein. Zu deinem Heimatlande / Führt dich ein herbstlich später Wandertag, / Das Herz geht dir mit immer müderm Schlag / Und du liegst still im gelben Heidesande.“ Im Folgejahr veröffentlichte der stilbewusste Jacobsohn drei weitere Texte des Autors. Die Verse stammen aus der Feder des 1891 in München-Gladbach (heute Mönchengladbach) als Sohn eines Böttchers geborenen Dichters Hans Leifhelm.

Das Werk dieses Poeten ist quantitativ nicht sehr umfangreich. Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte er zwei Bände: „Hahnenschrei“ (1926) und „Gesänge von der Erde“ (1933). Wem bei letzterem Titel der „Sonnengesang“ des Franz von Assisi im Unterbewusstsein aufleuchtet irrt nicht. Leifhelm hat eine das Herz berührende und poetisch sehr dichte Übertragung des Franziskus-Textes gefertigt. Ralf Georg Czapla nahm sie in seinen Auswahl-Band, von dem hier die Rede sein soll, auf.

In den letzten Jahrzehnten war der Dichter auch unter Literaturkundigen so gut wie vergessen. Der von Czapla zusammengestellte Band ist der erste Leifhelm-Sammelband seit 65 Jahren. Zuletzt hatte sich Norbert Langer in Salzburg des Dichters angenommen. Gut ist dem das nicht bekommen. Langer hatte eine durchaus braun gefärbte Weste. Aber die Rezeptionsbedingungen post mortem sind von niemandem steuerbar. Selbst die Veröffentlichung seines dritten Gedichtbandes „Lob der Vergänglichkeit“ (1949) hatte der Dichter nicht mehr erleben können. Er starb verarmt und sehr einsam nach längerem Siechtum im März 1947 in Riva del Garda.

Seine Gedichte zeugen von einem tiefen Naturverständnis, das mich stark an Oskar Loerke erinnert. Leifhelm liebt die Menschen und verzweifelt immer wieder an ihnen: „Sie wissen: Du sollst nicht töten! Und töten immerfort, / Sie wissen: Du sollst nicht stehlen! Und stehlen Raum und Licht, / Sie wissen: Du sollst nicht lügen! Und lügen sich ins Gesicht […]“ („Die Menschen“). Dennoch vertraut er dem „Keim Hoffnung“, das mag mit seiner tiefen katholischen Religiosität zusammenhängen. In Deutschland konnte der studierte und promovierte Nationalökonom allerdings nie tiefe Wurzeln schlagen. Er bleibt immer ein Umhergetriebener. Viermal, schreibt er Ende 1933 in einem Brief, sei er aus Deutschland geflohen. 1933 prügelten ihn die Nazis im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Land. Nicht nur wegen der aus Graz stammenden ersten Ehefrau Sophie, auch wegen der gebotenen Arbeitsmöglichkeiten, der grandiosen Alpenlandschaft und der vielfältigen künstlerischen Kontakte fasste Leifhelm in der Steiermark Fuß. In den 1930er Jahren führt sein Weg schließlich nach Italien.

Leifhelm war ein begnadeter Erzähler und guter Essayist mit einem weiten Themenspektrum. Der Herausgeber liefert eine schöne Übersicht dieser Texte. Der Band bietet eine anregende Entdeckungsreise. Manches liest sich sehr heutig, wie der 1922 für die Westdeutsche Wochenschrift geschriebene Aufsatz „Der Kampf um das Erdöl“. Schon Leifhelm verweist auf die komplizierte Gemengelage in der Auseinandersetzung um die (sowjet-) russischen Ressourcen…

Hans Leifhelm war eng mit dem Arbeiterdichter Heinrich Lersch befreundet. Beide in etwa Gleichaltrige verband eine gemeinsame geographische und geistige Herkunft. Leifhelm widmete dem Freund zwei schöne Gedichte und verfasste einen anrührenden Nachruf. Bis auf die letzten beiden Absätze. Der Stern der Heimat sei ihm – Lersch – in den letzten Lebensjahren aufgegangen, schreibt Leifhelm. „Stern der Heimat“? Lersch lief 1933 zu den Nazis über und ließ sich in frustrationsgesteuerter Eitelkeit von deren Propagandaapparat liebend gern gebrauchen. Dass Ralf Georg Czapla diese Texte kommentarlos aufnahm, trübte mir die Lektüre dieses spannenden Buches etwas. 

Hans Leifhelm: An des Abgrunds schmalem Saume. Gedichte, Erzählungen und Essays. Herausgegeben von Ralf Georg Czapla, Quintus-Verlag, Berlin 2022, 480 Seiten, 30,00 Euro.

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Noch schmerzhafter als Leifhelms „Kampf um das Erdöl“ machte mir ein erst seit wenigen Tagen auf meinem Tisch liegender Band von Brill Schöningh bewusst, dass Geschichte niemals zu Ende geht und sie zu gnadenlos blutigen Scherzen neigt, wenn wir nicht ernsthaft gewillt sind, aus unseren historischen Erfahrungen nachhaltige Schlüsse für unser gegenwärtiges Tun zu ziehen. „Das Antlitz der Zukunft ist nach wie vor düster. Wir wissen nicht, wie Europa aussehen wird nach dem Triumph über die bösen Mächte …“ – Hitlers und des Faschismus, beendet der Verfasser Kazimierz Wyka (1910-1975) seinen Satz. Er wurde 1942 im deutsch besetzten Polen aufgeschrieben, genauer gesagt in Krzesczowice, das unter dem „germanisierten“ Namen Kressendorf als Residenz des Generalgouverneuers Hans Frank herhalten musste. Bis nach Auschwitz ist es nicht weit.
Kazimierz Wyka, er arbeitete als Philologe an der Krakauer Jagiellonen-Universität, entging am 6. November 1939 der „Sonderaktion Krakau“ der Gestapo nur durch Zufall. Von den an jenem Tag in der Stadt verhafteten 183 Hochschullehrern überlebte nur ein einziger. Wyka überstand die Besatzungszeit in Kressendorf, quasi im Schatten des Menschenschlächters Frank, eine geradezu paradoxer Umstand. Offiziell arbeitete er im Sägewerk des Vaters, tatsächlich betrieb er „Feldforschung“, wie er es selbst nennt. Er beobachtete das polnische Alltagsleben unter der Besatzungsherrschaft, schrieb auf, was er sah – und goss es in essayistische Formen. Immer wieder versucht er, das Unbegreifliche begreifbar zu machen. Eben jenes polnische „Leben als ob“ in der Öffentlichkeit im Gegensatz zum „wirklichen Leben“, das sich im Verborgenen, in der Dunkelheit abspielen musste. Nach dem Krieg gab er diese Beobachtungen in einem Sammelband heraus, ergänzt um Überlegungen zur Gestaltung Nachkriegspolens: In „Das Schwert der Sirene“ reflektiert er die große Symbolhaftigkeit des Wiederaufbaus Warschaus – und fordert den Abriss der noch verbliebenen Altstadtreste. In „Die Macht des Pöbels ist bestätigt“ setzt sich Wyka in zorniger Verzweiflung mit dem antijüdischen Pogrom in Krakau vom 11. August 1945 auseinander. Ausgerechnet in Polen habe „Hitler sein Kuckucksei hinterlassen“. Wyka meint damit den Antisemitismus. Nicht zufällig ist der kleine Aufsatz der Schlusstext seines Buches. 

Gerade weil Kazimierz Wyka die kleinsten Details des Alltags registriert – wie kämpfen Menschen aller Schichten um das tägliche Überleben unter einer Besatzungsmacht („Die abgekoppelte Wirtschaft“), die eigentlich nur deren Sterben auf dem Schirm hat – sieht er Geschichte in ihren großen Zusammenhängen. „Und recht haben diejenigen, die sagen, das Unheil habe in München begonnen, denn damals stand das Opfer zum ersten Mal allein da.“ Wyka reflektiert mit diesem Satz in seinem Einleitungstext „Im Morgengrauen“ das Münchner Abkommen 1938, kann sich in diesem Zusammenhang der Scham polnischen Mittuns (das Teschener Land…) nicht entziehen.
Kazimierz Wyka schreibt keine minutiöse Alltagsgeschichte der Besatzungszeit. Ihm geht es um eine Analyse der Ursachen der polnischen Niederlage im September 1939. Ihm geht es darum, die Mechanismen zu verstehen, wie sein Volk die größte existenzielle Bedrohung seiner Geschichte überleben konnte. Ihm geht es darum, herauszufinden, unter welchen Bedingungen die polnische Republik zu einer tatsächlichen Volksrepublik werden kann.

Und niemals mehr solle ein Opfer allein dastehen … Gerade angesichts des noch immer zutiefst ambivalenten Verhältnisses unseres Landes zu unserem polnischen Nachbarn – in seinen Krisenmomenten verschärft mittels durchaus unterschiedlicher Sichten auf den Ukraine-Krieg und die von der PiS-Führung wieder aufgelegte Reparationsdebatte – legt das Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften ein schmerzhaftes, aber aus meiner Sicht zutiefst wichtiges Buch vor. Kazimierz Wykas Sammelband erschien erstmals 1957 unter dem Titel „Życie na niby“ in Warszawa. 2011 hatte es UNIVERSITAS Kraków wieder herausgegeben. Lothar Quinkenstein – langjährigen Blättchen-Lesern ist er durch seine Gedichte vertraut – hat eine kongeniale Übersetzung vorgelegt. Von Jerzy Kochanowski stammt ein kennnisreicher Einführungsessay (Übersetzung: Jakub K. Sawicki).
„Leben als ob“ zwingt zum Nachdenken. Gerade in den jetzigen Tagen schneller, bis zur nächsten Korrektur felsenfest daherkommenden Standpunktbildungen ist das nötiger denn je. Gegenüber unseren polnischen Nachbarn sind wir Deutschen immer noch in der Bringeschuld. Unsere Großväter wollten nicht nur das Land, sie wollten das ganze Volk auslöschen … Wladimir Putins Vorgänger im Geiste übrigens auch. Geschichte ist nie „zu Ende“. Und sie wiederholt sich durchaus. Nicht nur als Farce, da ist Karl Marx angesichts des Krieges im Osten Europas deutlich zu widersprechen.

Kazimierz Wyka: Leben als ob. Aufzeichnungen aus dem besetzten Polen. Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein, Brill Schöningh, Paderborn 2022, 238 Seiten, 49,90 Euro.