Am 4. August berichtete Amnesty International, dass Experten der Organisation zwischen April und Juli 2022 russische Angriffe in den Regionen Charkiw und Mikolajiw sowie im Donbass untersucht haben. Dabei trafen sie auch auf ukrainische Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht. So hatten ukrainische Truppen Stützpunkte in Wohngebieten eingerichtet und von dort aus Militärschläge gegen vorrückende russische Einheiten geführt, ebenso in Schulen und Krankenhäusern.
In Bachmut hatten sich ukrainische Einheiten direkt vor einem Hochhaus eingerichtet, das dann von russischen Raketen getroffen wurde. „Wir können nicht bestimmen, was das Militär tut“, sagte ein Anwohner, „aber den Preis dafür zahlen wir“. Die Berichte von Amnesty International beruhen auf eigenen Beobachtungen, Befragungen vor Ort und konkreten Recherchen. An fünf Orten hatten sie selbst beobachtet, wie ukrainische Truppen Krankenhäuser als Militärstützpunkte nutzten, an anderen Orten auch Schulen. In der Pressemitteilung von Amnesty wurde betont: „Solche Taktiken verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht und gefährden das Leben von Zivilpersonen, da dadurch zivile Objekte als militärische Ziele ins Fadenkreuz geraten. Bei darauffolgenden russischen Angriffen auf diese Wohngebiete wurden Zivilpersonen getötet und zivile Infrastruktur zerstört.“ Zum Schutz der Zivilbevölkerung gehört, den völkerrechtlich gebotenen Unterschied zwischen den kriegführenden Truppen, den „Kombattanten“, und der Zivilbevölkerung deutlich sichtbar zu machen, auch örtlich. Nur dann sind Zivilpersonen geschützt. Die internationale Generalsekretärin von Amnesty, Agnès Callamard, resümierte: „Wir sehen hier ein Muster, mit dem die ukrainischen Truppen bei ihren Einsätzen aus Wohngebieten heraus die Zivilbevölkerung in Gefahr bringen und das Kriegsrecht verletzten. Dass sich die Ukraine in einer Verteidigungsposition befindet, entbindet das ukrainische Militär nicht von der Pflicht, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten.“
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj reagierte prompt, noch am 4. August. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sei „ungerechtfertigt, invasiv und terroristisch“. Das hatte Amnesty aber gar nicht in Zweifel gezogen. Ein Bericht könne „nicht toleriert werden“, in dem „Opfer und Angreifer gewissermaßen auf eine Stufe gestellt werden“. Auch das war nicht erfolgt. Aber, so weiter Selenskyj, das sei eine „unmoralische Selektion“. Und weiter: „Jeder, der Russland amnestiert und einen derartigen Kontext schafft, muss verstehen, dass das den Terroristen hilft“, gemeint war Russland. Niemand hatte den Angriffskrieg „amnestiert“. Es war lediglich der Beweis erbracht, dass auch die Kiewer Armee offensichtlich und offenbar absichtsvoll gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt.
Callamard wiederum antwortete ebenfalls rasch: Die Organisation stehe „voll und ganz zu unseren Untersuchungen“. Und weiter: „Die Ergebnisse beruhen auf Beweisen, die im Rahmen umfangreicher Ermittlungen gesammelt wurden.“ Die Reaktion der ukrainischen Regierung berge die Gefahr, „dass die legitime und wichtige Diskussion über diese Themen abgeschreckt wird“. Zudem wurde mitgeteilt, das ukrainische Verteidigungsministerium sei am 29. Juli um eine Stellungnahme zu den Erkenntnissen des Berichts gebeten worden, die sei bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung am 4. August nicht erfolgt.
Die Leiterin des Ukraine-Büros von Amnesty, Oksana Pokaltschuk, übte Gehorsam gegenüber ihrem Präsidenten und trat zurück. Das hätte sie nicht tun müssen, weil die Berichte der Organisation stets so gegeben werden, dass die internationale Struktur verantwortlich ist und nicht das jeweilige nationale Büro, schon um das dortige Personal vor polizeilichen oder juristischen Angriffen der respektiven Regierung zu schützen. Gleichwohl beschuldigte Pokaltschuk auf Facebook Amnesty International, der Bericht sei „einseitig“ und berücksichtige die ukrainische Position unzureichend. So habe die Organisation, „Material veröffentlicht, das sich wie eine Unterstützung für das russische Narrativ anhört“. Deshalb habe sie versucht, die internationale Zentrale an der Veröffentlichung zu hindern. Statt Zivilisten zu schützen, sei der Bericht zu einem „russischen Propaganda-Instrument“ geworden. Hier betritt sie gemeinsam mit der Kiewer Regierung propagandistisches Neuland. In anderen Fällen, etwa in Ankara, Moskau, Peking oder Manila, wurde Amnesty stets der Lenkung durch CIA oder britischen Geheimdienst geziehen.
Agnès Callamard blieb bei ihrer Verteidigung des Berichts und damit der des Völkerrechts auch in Zeiten des Krieges. Bestimmte Anforderungen an die Kriegsführung müssen auch für die Ukraine gelten, verteidigte Martin Komárek in der liberalen Prager Tageszeitung Deník den Bericht von Amnesty: „Sollte der Bericht in der Schublade verschwinden? Keinesfalls. Die russische Führung ist der Aggressor, die Ukraine das überfallene Land, das sich gegen stärkere Eindringlinge wehrt. Wenn sie dabei aber Recht verletzt und Menschen einer überflüssigen Gefahr aussetzt, ist das taktisch vielleicht verständlich, aber nicht zu entschuldigen. […] Der Westen und die Führung der Ukraine sollten den Bericht von Amnesty ernst nehmen und Konsequenzen ziehen. Niemand kann von der Ukraine verlangen, dass sie mit Samthandschuhen gegen brutale Eindringlinge kämpft. Sie darf aber nicht bewusst Zivilisten als Geiseln nehmen.“
Der Journalist Marin Gherman, der aus der Ukraine stammt und in Rumänien lebt, bewertete diese Vorgänge deutlich schärfer. Kiew reagiere „auf Kritik stets reflexartig“. Es habe das Papier verrissen, aber das sei die Standardantwort auf unbequeme Wahrheiten. „Für den ukrainischen Staat bedeutet Kritik oft nicht, dass man anderer Meinung ist, sondern dass man Feind ist.“ Bereits in der Vergangenheit gab es auf verschiedene Vorwürfe oder auch eher geringfügige Anmerkungen von außen relativ oft „emotionsgeladene und nicht argumentierte Reaktionen“ Kiews. „Ein Beispiel sind die Berichte des Europarats: Sämtliche Resolutionen dieser internationalen Organisation, die die Novellierung des Bildungsgesetzes oder anderer Vorschriften in Sachen Minderheitenrechte nahelegten, wurden von Kiew scharf kritisiert oder einfach ignoriert.“ Derlei autoritäre Praktiken dürfen sich auch nicht auf die Kriegslage herausreden. Wessen Freiheit auch immer jetzt in der Ukraine verteidigt wird.
Schlagwörter: Amnesty International, Bernhard Romeike, Krieg, Ukraine, Völkerrecht