Pierre Bourdieu hielt Anfang der 1990er Jahre an einem 3. Oktober in Berlin einen Vortrag. Das Thema waren kulturelle Differenzen innerhalb einer Gesellschaft, seine These war: die Unterschiede zwischen den Regionen in Frankreich, die 1789 für die Revolution kämpften, und denen, die damals antirevolutionär und royalistisch waren, konnten auch nach 200 Jahren noch kultursoziologisch nachgewiesen werden. Die Ostdeutschen bräuchten sich um das langfristige Fortwirken ihrer Identitäten keine Sorge zu machen.
Nachdem die tonangebenden westdeutschen Sozialwissenschaftler jahrelang gemeint hatten, die „Transformation“ des Ostens sei erfolgreich vollzogen, sie hätten dies genügend ausgeforscht und der Ossi als solcher sei forschungsmäßig erledigt, drängte das Thema nach dreißig Jahren wieder auf die Tagesordnung und prägte die Debatten um den „Jahrestag“ 2019/20. Die deutsche Sozialwissenschaft bestätigt im Grunde Bourdieus damalige These. In diesem Sinne wurde an der Universität Leipzig in Kooperation mit der Universität Freiburg ein Forschungsverbund eingerichtet zum Thema: „Das umstrittene Erbe von 1989. Aneignungen zwischen Politisierung, Popularisierung und historisch-politischer Geschichtsvermittlung“, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Laufzeit 2018-2022 und institutionell angesiedelt beim Leipziger Institut für Kulturwissenschaften.
In der Projektbeschreibung heißt es: „Der Herbst 1989 kann als ‚charismatisches Ereignis‘ interpretiert werden. Er war geprägt von der Eigendynamik des politischen Umbruchs, von der Ungewissheit in Bezug auf Verlauf und Ausgang sowie von der Erfahrung der Aktionsmacht massenhafter Straßenproteste. Die Ereignisse von 1989 sind heute Bestandteil kollektiver Erinnerung und eines geschichtspolitisch dominanten ‚Revolutionsgedächtnisses‘. Zugleich sind die Deutungen des Symboljahrs ’89 für sich bislang kaum systematisch untersucht worden, sondern waren eingebunden in Narrative zur Geschichte der DDR als Unrechtsstaat und der deutschen Einheit als Erfolgsgeschichte.“ Im Klartext heißt das, 30 Jahre „Transformationsforschung“ haben im wesentlichen Ideologie produziert, darauf ausgerichtet, die DDR im Nachgang noch einmal im Sinne des Kalten Krieges zu delegitimieren und vom Erfolg der siegreichen BRD zu künden. Davon wollen sich die jetzigen Projektanten abgrenzen. So heißt es weiter: „Hier setzt das Forschungsprojekt an: Es rückt das ‚Charismatische‘ von ’89 und die tiefe subjektive und kollektive Prägekraft der Ereignisse in den Mittelpunkt. Es fragt nach ihrer Bedeutung für das Erinnern an ’89 sowie für Gegenwartsdeutungen und aktuelle politische Orientierungen.“ Unter soziologischer wie historischer Perspektive sollte das Ganze noch einmal neu betrachtet werden.
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Projekteinreicherin war Monika Wohlrab-Sahr (Jg. 1957), studierte evangelische Theologin und Soziologin, in Leipzig Professorin für Kultursoziologie, zuvor Professorin für Religions- und Kirchensoziologie. Der zuständige Mitarbeiter an dem Leipziger Kulturwissenschaftlichen Institut ist Alexander Leistner (Jg. 1979), er hat ebenfalls Evangelische Theologie und Soziologie sowie Erziehungswissenschaft studiert. Die biographischen Daten sind deshalb interessant, weil beide als Personen mit den realhistorischen Vorgängen in der umbrechenden DDR nichts zu tun hatten. Sie können also auf ihr Thema schauen, wie andere auf den Bauernkrieg oder auf die Talgemeinschaften in Neuguinea. Der eine war zu jung, um ernsthafte eigene Erinnerungen zu haben, die andere stammt aus Bayern und hat sich vor ihrer Leipziger Zeit als Soziologin mit der „biographischen Unsicherheit von Zeitarbeiterinnen“ sowie mit „Konversion zum Islam“ in Deutschland und in den USA befasst.
Der kürzlich erschienene Band, herausgegeben von Leistner und Wohlrab-Sahr, heißt im Untertitel „Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs“, was die Ansprüche gegenüber dem Titel des Forschungsprojekts etwas herunterschraubt. Versammelt wurden ausgewählte Beiträge, die auf einer Tagung in Leipzig im November 2019 gehalten wurden, „gezielt um zusätzliche perspektivierende Texte ergänzt“.
In einem Einleitungsbeitrag erläutert Leistner den Band und resümiert Perspektiven der einzelnen Beiträge in Sicht auf das Gesamtprojekt und seine Resultate. Historisch nimmt er Bezug auf einen Soziologentag in Leipzig im Mai 1991 sowie auf einen Historikertag im September 1990 in Bochum. Beide seien „disziplinäre Schwellenereignisse“ gewesen, exemplarisch in einer „komplexen Begegnungsgeschichte“. Die begann mit wechselseitiger Unsicherheit auf beiden Seiten, dem Grundverständnis im Westen, ob denn die DDR-Historiographie und die DDR-Soziologie „überhaupt ernstzunehmende Wissenschaften oder vor allem ideologisierte Legitimationsinstrumente“ waren. Am Ende sollten die Westler nicht genötigt sein, sich „mit dem komplexen Innenleben der Ostdisziplinen“ zu befassen, sie kamen „in die machtvolle Situation“, die bestehenden DDR-Strukturen zu evaluieren und die Fächer in ihrem Sinne neu aufzubauen. Dabei verweist Leistner darauf, dass auf dem Historikertag in Bochum auch Vertreter des im Januar 1990 in der DDR gegründeten „Unabhängigen Historikerverbandes“ (UHV) aufgetreten waren. Armin Mitter forderte in diesem Sinne nicht nur, dass die früheren SED-Professoren „weg“ müssten, sondern auch, dass diese nicht durch „zweitklassige Leute“ aus der BRD ersetzt werden dürften. Das führte zu Befremden unter den Westkollegen. Leistner resümiert, auch niemand aus dem UHV erhielt eine richtige Stelle im westdeutsch bestimmten Wissenschaftsgefüge.
Die Palette der zusammengestellten Texte ist breit. Der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg stellt die Frage, ob die „Friedliche Revolution“ (im Original großgeschrieben) „als Modell für den Kampf gegen autoritäre Herrschaft“ tauge. Dabei kommt er auf Korea, streift irgendwie die Ukraine, ohne deutlich zu machen, was die hier soll, um dann zu der allbekannten Schulweisheit der Politischen Bildung zu kommen, autoritäre Regime seien gegenüber Demokratien „letztlich schwach“. Die selbstgestellte Frage beantwortet er nicht. Mit Blick auf 1989 kommt er auf die interessante Feststellung, „dass der Niedergang eines Systems und dessen revolutionäre Überwindung für sich genommen ein neues System noch nicht zu legitimieren vermag.“ Die naheliegende Schlussfolgerung zieht er wiederum nicht: das Scheitern der DDR macht die realexistierende BRD nicht besser als sie ist. En passant verhandelt Rehberg PEGIDA als „Resonanzraum“ für „Wende-Verlierer“, um dann rechtspopulistischen Protestbewegungen das Recht abzusprechen, „Wiedergänger der Friedlichen Revolution“ zu sein. Beleg wieder die bekannten Umfragezahlen, dass nur 30 Prozent der Befragten sich heute als nicht Beteiligte und nur 15 Prozent als „Opfer“ der Wende und der heute herrschenden Verhältnisse ansehen. Am Ende die mahnende Erinnerung an ein Wort des Bundespräsidenten Steinmeier von 2019, es sei Zeit, sich mit den „Härten des Umbruchs“ im Osten zu beschäftigen.
Weitere Beiträge befassen sich mit der filmischen Repräsentation der Leipziger Montagsdemonstrationen, einer Bestandsaufnahme seit 1989 erschienener Musikstücke, Musikvideos, fiktionaler Literatur und Spielfilmen, die den gesellschaftlichen Umbruch seitdem zu reflektieren versuchen, sowie dem Osten „als Ort pluraler Beheimatung in der Populären Musik seit 2000“. Das bemerkenswerte Vergessen „des Volkseigentums während der friedlichen Revolution“ wird unter dem Titel „Unbesorgtes Eigentum“ unter Bezugnahme auf Volker Braun verhandelt. Christina Schwarz, Mitarbeiterin im Forschungsprojekt, versucht, Vorschläge für die historisch-politische Bildung zu 1989, insbesondere im Bereich der Jugendbildung zu machen. Verena Haug, Pädagogin im „Anne Frank Zentrum“ Berlin, warnt vor einer „moralischen Aufladung der Pädagogik“. Die Behauptung, die Gesellschaft der BRD vor 1989 war eine „Konsensgesellschaft“, sei Imagination gewesen. Zugleich die „Basiserzählung“ einer „geläuterten Gesellschaft“, die nicht nur die NS-Vergangenheit aufgearbeitet, sondern „gleich zwei Diktaturen überwunden habe und jetzt demokratisch sei“. Das sei eine Gesellschaft, „die die Qualität der politischen Bedrohung weder unterscheiden will noch kann und nach der das Böse an den Rändern sei und in der Mitte nur Gutes, Demokratisches“. Ein solches Selbstverständnis würde die tatsächlichen Gefahren für eine demokratische Gesellschaft nicht mehr wahrnehmen.
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In ihrem Nachwort macht Wohlrab-Sahr geltend, dass bei allen divergierenden Erklärungen auch nach 30 Jahren der positive Bezug auf ’89 als „charismatisches“ Ereignis erhalten blieb, „auf das die Ostdeutschen stolz sein konnten, als Erfahrung der überwundenen Angst und von Selbstermächtigung, als kollektives Erleben der Macht, die sich von der Straße her entfalten konnte; und nicht zuletzt als Erfahrung, dass ein – mehrfach geschwächtes – Regime auf diese Weise zu Fall gebracht werden konnte“. Die öffentliche Kontroverse darüber, wem ’89 gehört und wer sich darauf legitimerweise berufen dürfe, sei beantwortet: „alle nämlich, die von sich behaupten können, sie seien ‚schon damals dabei gewesen‘“.
Vor diesem Hintergrund lohnt es, zurückzublättern und einige Beiträge nochmals genauer anzusehen. Der Theologe und Sozialwissenschaftler David Begrich verweist auf die „anhaltende Repräsentationslücke ostdeutscher Erfahrungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik“, die Auswirkungen auf das Demokratie- und Protestverständnis in Ostdeutschland haben. Pegida, AfD, Querdenker und „Lügenpresse“ als Qualifizierung von ARD und ZDF sind die Folgen. Der Politikwissenschaftler Armin Steil macht auf das Phänomen der „Selbstlegitimation durch Selbstvergrößerung“ aufmerksam. Eine Staatlichkeit, die sich nur noch als Verwaltung von Rechtsnormen versteht, überlässt die Politik der Opposition auf der Straße. Diese wiederum vergrößert den Gegner und damit sich selbst in dieser Auseinandersetzung und setzt auf das Mittel der moralischen Bezichtigung. Daraus findet der Staat ohne Gesichtsverlust keinen Ausweg. Insofern mündet die Erzählweise eines „charismatischen“ Ereignisses in ein „monumentalistisches Erinnern“. Greta Hartmann, Soziologin und ebenfalls Mitarbeiterin in dem Forschungsprojekt, betont, in der „offiziellen Erinnerungskultur“ vor 2019 war ’89 ein abgeschlossenes Ereignis, wonach die deutsche Vereinigung die notwendige Folge der „friedlichen Revolution“ war. Für viele damalige Bürgerrechtler und heutige Oppositionelle war dies jedoch ein offener Prozess, eine „unabgeschlossene Geschichte steckengebliebener Reformimpulse“. So gilt, was Carsta Langner betont: „Alles ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen“.
Dass es eine „ostdeutsche Identität“ gibt, lehnt die Historikerin Ute Frevert ab. Die Frontstellung zum Westen verdecke die „Binnendifferenzen des Ostens“. Dafür müssen „SED- und Stasi-Kader“ herhalten, die nach 1989 „ihr Experten- und Herrschaftswissen nutzten und sich in der chaotischen Umbruchszeit fleißig am brachliegenden Volksvermögen bedienten“. Die würden „in der ostdeutschen Erzählung über die demütigenden Akteure des westdeutschen Raubtierkapitalismus“ nicht auftauchen. Zudem finde der „Oststolz“ seinen Ausdruck vor allem in der „Ostalgiewelle mit Spreegurken, Ampelmännchen, Kostümfesten und Trabisafaris“.
Ohne solchen Kotau vor der Lesart der Herrschenden hätten Wohlrab-Sahr und ihre Mitstreiter das aufschlussreiche Projekt wohl nicht finanziert bekommen.
Alexander Leistner/ Monika Wohlrab-Sahr (Hrsg.): Das umstrittene Erbe von 1989. Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs, Wien/ Köln: Böhlau Verlag 2022, 376 Seiten, 39,00 Euro.
Schlagwörter: 1989, Alexander Leistner, DDR, Erhard Crome, Monika Wohlrab-Sahr, Transformationsforschung