Die Silhouette der alten (bis Anfang des 16. Jahrhunderts) spanischen Hauptstadt Toledo wird beherrscht vom Alcázar, heute Militärmuseum. In dessen Gemäuern hatten sich im Bürgerkrieg (1936 bis 1939) faschistische Putschisten verschanzt. Die Republikaner wollten die Übergabe durch die Drohung erzwingen, einen Sohn des franquistischen Kommandeurs zu erschießen. Der soll seinen Vater am Telefon aufgefordert haben, keinesfalls zu kapitulieren. Das ist der Stoff, aus dem später Heldenepen gestrickt werden. So auch in diesem Falle: Den durch die Kämpfe weitgehend zerstörten Alcázar ließ Franco nach seinem Sieg wieder aufbauen (einschließlich der Einschusslöcher im Kommandantenzimmer) und zur Gedenk- und Weihestätte seiner Bewegung umfunktionieren.
Die Kathedrale von Toledo gilt, einschlägigen Reiseführern zufolge, als eine der zehn schönsten Spanien, und – nach welchen Kriterien auch immer dieses Ranking aufgestellt worden sein mag – das mag durchaus stimmen. Allerdings lassen die Lichtverhältnisse im Inneren so sehr zu wünschen übrig, dass in dieser Frage ein Votum aufgrund eigener Anschauung schlechterdings nicht abgegeben werden kann.
Dass die katholische Kirche eine anrüchig geschäftstüchtige ist, weiß man spätestens seit dem Ablasshandel, mit dem unter anderem der Bau des Petersdomes finanziert wurde. Auch in Toledo kamen entsprechende finanzielle Mittel zum Einsatz. Ein Überbleibsel: neben den zehn Euro Eintritt zur Kathedrale muss man drinnen vor Betreten mancher Kapellen drei weitere Münzen löhnen. Nicht jedoch für die große Sakristei, die eine Pinakothek sakraler Gemälde beherbergt, die mit Velasquez, Tizian, Raffael, Caravaggio und van Dyck ebenso aufwartet wie – natürlich – mit El Greco. Auf dessen Werke trifft man in Toledo allenthalben, hat er doch bekanntlich den längsten Teil seines künstlerischen Lebens hier verbracht. Eine originelle Gegenüberstellung in einem der Räume der Sakristei – die Jünger Jesu a) als Körperporträts von El Greco und b) nur ihre Gesichter von José María Cano, Jahrgang ’59. Bei Cano sind Jesu Lieblingsjünger Johannes (der lieblichste) und der (ungläubige) Thomas (mit zweifelndem Blick) am leichtesten zu erkennen. Über Cano, der vor Jahren auch eine Ausstellung in den Kunstsammlungen Dresden hatte, äußerte Rosa Martínez, Kuratorin der Präsentation in der Kathedrale „Seine ikonographischen Referenzen sind nicht die Maler der Vergangenheit, die er dennoch im Detail studiert, sondern Menschen aus seiner Umgebung, einschließlich seines eigenen Sohnes, der den Heiligen Johannes repräsentiert, weil er in ihnen die Leiden, Kämpfe und moralischen Qualitäten sieht, die für das zeitgenössische Leben relevant sind.“
Die örtliche Tourismuswerbung spricht von Toledo als Stadt der drei Kulturen, womit neben der abendländisch-christlichen die maurische und die jüdische gemeint sind. Weniger ist die Rede davon, dass diese kulturelle Dreifaltigkeit sich in friedvoller Koexistenz nur so lange entwickeln konnte, wie die Mauren herrschten. Kaum war 1492 deren Zeit durch die Reconquista gewaltsam beendet, setzte die allgemeine Vertreibung der Juden ein. Mauren wurden zwar noch weitere 150 Jahre mehr oder weniger geduldet, im Wesentlichen als fahrendes Volk auf niederster sozialer Stufe, doch dann wurden auch sie vertrieben. Heute gilt die große historische Synagoge nahe der Calle de los Reyes Catolicos als nationales Denkmal, aber die zwischenzeitliche jahrhundertlange katholische „Umnutzung“ wird stillschweigend übergangen. Sie erschließt sich über den Namen – Synagoga de Santa Maria la Blanca und den Sachverhalt, dass das einzige religiöse Accessoire im Inneren dieses Gotteshauses ein Kreuz ist. Ähnliches gilt für eine historische Moschee aus dem Jahre 1000 in der Altstadt, die als Mezquita del Cristo de la Luz firmiert und einen Gekreuzigten beherbergt.
Das ziellose Schlendern durch Toledos Altstadtgassen mit Restaurants, Cafés, kleinen grünen Ruheinseln und den unvermeidlichen Touristenläden ist gewöhnungsbedürftig. Als dieser zivilisatorische Schnittmusterbogen entstand, war man überwiegend zu Fuß, allenfalls zu Pferde unterwegs, und nicht zuletzt aus Platzmangel und zum Schutz gegen die Hitze des Tages wurde dicht an dicht gebaut. Heute herrscht Autoverkehr, auch in Spanien übrigens gern mit SUVs, so dass Pedestrians häufig mit dem Rücken zur Wand ausweichen müssen, um nicht Bekanntschaft mit den Außenspiegeln von Straßenpanzern zu machen.
In Toledo begegnet uns nicht zuletzt das erste Restaurant, in dem die Speisekarte tatsächlich nur noch über QR-Code und Mobile Phone einzusehen ist. Wenn demnächst auch noch die Angebote draußen neben dem Eingang einspart werden, sind analoge Touristen wohl dem Hungertod preisgegeben …
Auf jeden Fall lohnt sich ein Aufstieg auf den Turm der Jesuiten-Kirche San Idelfonso mitten in der Altstadt, denn von oben bietet sich ein hervorragender Rundblick über Toledo und seine Außenbezirke. Die Kirche steht in der ausgesprochen hügeligen Altstadt ihrerseits erhöht, so dass nur noch 131 Stufen zu erklimmen sind. Und im Kirchenschiff katholisch Makaberes: Wo sonst in Reliquiaren nur Knöchelchen oder allenfalls mal eine Elle oder ein Schienenbein ausgestellt werden, sind es hier gleich ganze Schädel, und ja, im Plural – ein Dutzend nämlich.
Der Parador von Toledo schließlich liegt auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt sowie auf der anderen Seite des Toledo teilweise umfließenden Tajo, des längsten Flusses auf der iberischen Halbinsel. Das Hotel ist ein höchst komfortabler Bau unserer Tage. Von der Terrasse der Cafeteria hat man einen phantastischen Blick auf die Stadt, der jeden anderen Mirador (Aussichtspunkt) in der Gegend locker in den Schatten stellt.
Last but not least: Toledo ist unter Leckermäulern berühmt für sein Marzipan, das in der Altstadt vielerorts feilgeboten wird. Es schmeckt durchaus vorzüglich, ist überhaupt nicht übersüßt, aber – wer Niederegger zu seiner Hausmarke erkoren hat, wird wohl trotzdem nicht wechseln.
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Wenige Kilometer vor Sigüenza, der letzten Station unserer Reise, an einem Aussichtspunkt, der Einblick in eine wilde Schlucht, eine Kulisse wie aus einem Karl-May-Film, gewährt, am Himmel – Geier. Deren Populationen haben in Spanien merklich zugenommen, seit im Jahre 2011 das zuvor wegen BSE verhängte Verbot wieder aufgehoben wurde, Tierkadaver aus der Viehzucht in freier Wildbahn zu belassen oder gar dort (an speziell eingerichtete Ablageplätzen) zu entsorgen. Um welche der im Lande verbreiteten Arten, Gänse-, Mönchs- oder Schmutzgeier, es sich jedoch konkret gehandelt hat, war für uns ornithologische ABC-Schützen nicht auszumachen.
Der Castillo von Sigüenza soll laut Parador-Eigenwerbung ein mittelalterliches Schloss auf Überresten römischer und maurischer Gemäuer sein. Es gleicht jedoch eher einer Großfestung, in die der Winzling von Alarcon (siehe Blättchen 14/2022) wohl drei- bis viermal hineinpasste. Entsprechend großzügig ist der Parador angelegt. Mit Salons, einem Restaurant in Größe zweier Rittersäle, einem gesonderten Festsaal, etwa für Hochzeiten, und entsprechend unbeengt sind auch die Zimmer – unseres mit Panoramasicht über die Landschaft ringsum.
Befremdlich an der Architektur der Anlage – von den drei an der Außenfront in luftiger Höhe an den Mauern verankerten, jeweils doppelsitzigen historischen Plumpsklos müssen sich zwei in einen der Innenhöfe der Anlage und das dritte über die Ankömmlinge an einem der Zugangstore entladen haben. Bei dergleichen Ungereimtem pflegte man in der DDR zu bemerken: „Die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben.“
Als wir am Abend gegen 19:30 Uhr das Hotel verlassen, versammelt sich gerade eine Hochzeitsgesellschaft im Parador, während das Brautpaar einen blumengeschmückten Mercedes besteigt und davonfährt. Zur Trauung? Andere Länder, andere Sitten? Als wir gegen 22:00 Uhr zurückkehren, ist die Feier jedenfalls in vollem Gange und auch das Brautpaar wieder anwesend …
In der Zwischenzeit haben wir im nur wenige Fußminuten vom Parador entfernten Kultursaal des Ortes, in einer modern bestuhlten früheren Kirche, ein Konzert von Synthèse Quartet besucht. Dessen Plakatierung war uns erst Stunden zuvor bei einem Stadtrundgang ins Auge gefallen. Die vier jungen Musiker, die schon etliche Jahre gemeinsam touren und bereits zahlreiche internationale Auftritte erfolgreich absolviert haben, blasen Blech – Sopran-Saxophon (Javier Valero), Alt-Saxophon (Ángela Romera), Tenor-Saxophon (Ismael Arroyo) und Bariton-Saxophon (Raúl Flox). Und zwar auf höchst mitreißende Weise, wie man sich auf Youtube jederzeit anhören und -sehen kann. Ein gelungener Abschlussabend unserer Reise.
Hasta luego, España!
Die vorhergehenden Folgen sind in den Ausgaben 11/2022, 12/2022, 13/2022 und 14/2022 erschienen.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Parador, Sigüenza, Spanien, Toledo