„Die Wahrheit wird vielschichtiger sein.
Interpretationen hängen vom Standpunkt des Betrachters ab.
Wahrscheinlich auch davon, wofür eine Sache instrumentalisiert wird.“
Egon Krenz
Ich muss Abbitte leisten. Bei Kollegin Maritta Tkalec von der Berliner Zeitung. Sie hatte in Ihrer Rezension des gerade erschienenen ersten Bandes der Erinnerungen von Egon Krenz doch glatt behauptet: „Bei der Lektüre fällt man von einer Verblüffung in die nächste.“ Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wobei – zugegebenermaßen – durchaus meine noch aus DDR-Zeiten herrührende persönliche Animosität gegen Honeckers „Kronprinz“ die Hand im Spiel gehabt haben dürfte. Nun, wie dem auch sei – Kollegin Tkalec hat nicht übertrieben, und ihrer verallgemeinernden Einschätzung „konzentriert, ungeschwätzig und sprachsicher“ soll hier ebenso wenig widersprochen werden.
Wer sich für die Biographie von Egon Krenz bisher nicht interessiert hat erfährt, dass Krenz aus kleinsten Verhältnissen stammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde. Deren erster Mann und Vater von Krenzens Halbschwester war im ersten Weltkrieg geblieben, Egons Vater und der Mutter zweiter Gatte dann im nächsten. Neu fürs breite Publikum hingegen dürfte sein, dass Krenz 1947, vulgo als Zehnjähriger, einige Wochen auf Sylt verbracht hat, wohin ihn die Mutter zwecks Besuchs ihrer dort lebenden Tochter mitnahm. Dies zu einer Zeit, als private Westbesuche aus der SBZ in der Regel bereits nur auf dem Wege eines (damals möglichen) illegalen Grenzübertritts zu arrangieren waren. Die familiäre Harmonie ließ allerdings zu wünschen übrig. Für die Rückkehr in den Osten hatte die Mutter jedoch, wie Krenz berichtet, einen weiteren Grund: „Bei euch regieren ja immer noch die Nazis.“
Der Autor nutzt diese Episode für eine seiner wiederholten politischen Arabesken abseits seiner eigenen unmittelbaren Biographie – in diesem Falle für die Erinnerung daran, dass der Bürgermeister von Westerland auf Sylt von 1951 bis 1964 Reinefahrt hieß. Studierter Rechtsanwalt, als SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS 1944 Befehlshaber der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes, verantwortlich auch für die Ermordung zig-Tausender polnischer Zivilisten während dieser Vernichtungsaktion. Nach dem Krieg in Hamburg von einer westdeutschen Spruchkammer entnazifiziert. Einem Auslieferungsantrag Polens gegen den Kriegsverbrecher hatte die britische Besatzungsmacht nicht stattgegeben …
Aha, wird an dieser Stelle vielleicht mancher aufatmen: Krenz – unverändert der alte Agitator! Mitnichten: An solche historischen Tatsachen zu erinnern ist angesichts jener nicht wenigen westdeutschen Moralisten, die seit der deutschen Vereinigung den Unrechtscharakter der DDR selbst aus dem kollektiven Aufs-Töpfchen-Setzen von Krippenkindern ableiten, wohl eher ein Zeichen von aufrechtem Gang.
Vielfach plaudert Egon Krenz auf geschichtlich erhellende Weise aus dem Nähkästchen seiner Zugehörigkeit zur politischen Führung der DDR. So ist beispielsweise zu erfahren, dass selbst die Allmacht eines SED-Generalsekretärs ihre Grenzen hatte und etwa Stefan Heyms Buch „Fünf Tage im Juni“ trotz Honeckers Plazet nicht in der DDR erscheinen durfte, weil Moskau dagegen war und seine „Fraktion“ im SED-Politbüro – mit Stasi-Minister Mielke an der Spitze – entsprechend handelte. Heym war der historischen Wahrheit zu nahegekommen: Dass nämlich bei der Auslösung des „Volksaufstandes“ vom 17. Juni 1953 sowjetische Kräfte um den potenziellen Stalin-Nachfolger Berija ihre Finger maßgeblich mit im Spiel hatten, Kräfte, die in der DDR lediglich noch die Verfügungsmasse für einen Deal mit dem Westen zur angestrebten Neutralisierung ganz Deutschlands sahen.
Apropos Umgang Moskaus mit der DDR: Darauf nimmt Krenz in ganz unterschiedlichen historischen Zusammenhängen (dazu auch weiter unten) immer wieder Bezug. Insofern ist sein Buch auch eine interessante Ergänzung zu den vor einigen Jahren erschienenen Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau (Gerd König: Fiasko eines Bruderbundes; siehe Blättchen 20/2015).
An anderer Stelle wurde dem Besprecher nach Jahrzehnten des Lebens mit einer Halbwahrheit endlich Aufklärung beschieden. Während seines Grundwehrdienstes in der NVA hatte er – gleich anderen – sich über die Ähnlichkeit seiner Uniform mit jener der faschistischen Wehrmacht mokiert. Diese Uniform, so war er seinerzeit belehrt worden, gehe auf die antinapoleonischen Befreiungskriege zurück. Wow! Das war OK. Krenz enthüllt die wahre Geschichte. Die Entwürfe der künftigen NVA-Uniformen, stark angelehnt an jene der Sowjetarmee, waren Gegenstand eines Gespräches zwischen SED-Chef Walter Ulbricht und KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow: „Chruschtschow kommentierte: Die DDR-Deutschen hätten wohl Angst sich auf deutsche Traditionen zu besinnen. ‚Warum wollt ihr sowjetische Uniformen? Es reicht doch, wenn die Westdeutschen amerikanische Uniformen tragen. Ihr braucht deutsche Uniformen.‘“ Gesagt, getan. Und die Sache mit den Befreiungskriegen? „[…] musste dann als Argument herhalten.“
Eines der – neben den Kapiteln „Honecker und Wehner“ sowie „Honecker, Brandt und Guillaume“ – interessantesten in Krenz’ Buch trägt den Titel „Abkommen, Anerkennung, Abgrenzung“ und behandelt unter anderem das sogenannte Viermächteabkommen über Berlin, das 1971 zwischen der UdSSR, den USA, Frankreich und Großbritannien abgeschlossen wurde, um einen der Hauptspannungsherde zwischen Ost und West im Kalten Krieg ruhigzustellen. Moskau führte, was dem Besprecher so bisher nicht bekannt war, diese Verhandlungen in engster Abstimmung zwischen KPdSU-Chef Leonid Breshnew und SED-Politbüromitglied Erich Honecker, der dabei hinter Ulbrichts Rücken agierte. Krenz: „Die DDR saß zwar nicht mit am Verhandlungstisch, aber ohne ihre Zustimmung wurde nichts vereinbart. Dafür sorgte Breshnew persönlich.“ Selbst der legendäre 1971er Besuch des damaligen Bundeskanzlers Willi Brandt in Breshnews Urlaubsdomizil Oreanda auf der Krim war zuvor zwischen dem Sowjetführer und Honecker abgestimmt worden, und was „Brandt und Breshnew am Strand des Schwarzen Meeres beim Baden und bei Bootsfahrten […] besprachen, erfuhr Honecker noch am gleichen Abend“. Einzelne sowjetische Gesprächspositionen während des Brandt-Besuches wurden mit Honecker vor ihrer Unterbreitung gegenüber dem Gast im Detail abgestimmt. Nach weiteren Beispielen für die damalige enge Koordinierung lautet Krenz’ Fazit: „Heutzutage ist es üblich die Ostpolitik der SPD als Beitrag zur Entspannung zu loben. Den Beitrag der DDR kennt kaum jemand. Die SPD hat aber ihre Entspannungspolitik nicht mit sich selbst gemacht – ohne die DDR wäre die Ostpolitik der SPD unmöglich gewesen.“
Der Erinnerungsband endet mit folgender Passage: „Honeckers kameradschaftliches Verhältnis zu mir beeindruckte mich. Es war herzlich und produktiv. Das sollte sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als Gorbatschow in Moskau das Ruder übernahm, ändern. Eine Freundschaft ging zu Ende. Da widerrief Honecker, was im Westen seit Jahren über mich kolportiert worden war, nämlich dass ich sein ‚Kronprinz‘ sei. Doch dazu später.“
Man darf gespannt sein.
Egon Krenz, Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen, edition ost, Berlin 2022, 286 Seiten, 24,00 Euro (gebunden), 19,99 Euro (Kindle).
Schlagwörter: Alfons Markuske, Egon Krenz