25. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2022

Film ab

von Clemens Fischer

Solche Thriller – ein Hochgenuss für Cineasten der aussterbenden Art, die mit Action-Mumpitz weit jenseits aller Naturgesetze und sonstigen Wahrscheinlichkeiten nichts anfangen können – gibt es eigentlich seit langem nicht mehr. Und daher wurde es mal wieder Zeit für eine Ausnahme, die diese höchst bedauerliche Regel nicht nur bestätigt, sondern für die Dauer des Erlebens auch außer Kraft setzt.

Graham Moore (Drehbuch zu „The Imitation Game“) ist mit seinem Regiedebüt „The Outfit. Verbrechen nach Maß“ so eine Ausnahme gelungen: ein Kammerspiel – 106 Minuten ausschließlich in einer kleinen Schneiderwerkstatt in Chicago im Jahre 1956 und ausschließlich mit Dialogen und Kommentaren aus dem Off, wenn man von ein paar recht kurzen Traumsequenzen, die den Protagonisten in sein früheres Leben führen, absieht.

Klingt betulich, nach vorprogrammierter Langeweile – oder?

Das Gegenteil ist der Fall!

Denn bei diesem Schneider lässt ein eitler Gangsterboss arbeiten, und Graham Moore hat Agatha Christie und andere Ikonen der intelligenten, raffinierten und schwarzhumorigen anglo-amerikanischen Kriminalliteratur offenbar, wenn schon nicht mit der Muttermilch eingesogen, so doch gründlich zur Kenntnis genommen. So trägt der Spannungsbogen über den gesamten Streifen, und wer zum Schluss hin befürchtet, das Ganze könnte sich doch happy-ending-mäßig in den Abspann davonschleichen, der wird nochmals überrascht.

Ein solches Kammerspiel kommt – bei aller Liebe zum zeittypischen Detail in der Ausstattung des Films – natürlich nur dann wirklich rüber, wenn die Besetzung stimmt, wenn also den Hauptdarstellern eine breitere mimische, ach was, künstlerische Variabilität zur Verfügung steht als etwa Tom Cruise in „Top Gun“ oder „Mission: Impossible“. Dafür allerdings bringt Mark Rylance (Oscar als bester Nebendarsteller für den sowjetischen Top-Spion Rudolf Abel in „Bridge of Spies“) nun sämtliche Voraussetzungen mit. Seinem unaufdringlichen und desto faszinierenderem Spiel zu folgen, seinen immer neuen Volten, um seine kriminellen erst ungewollten Hausgäste, dann tödlichen Widersacher in deren eigenes Verderben hineinzumanipulieren, das ist ein seit Miss Marple und Hercule Poirot selten gewordenes Vergnügen.

Eine klassische Botschaft hat solch ein Streifen natürlich nicht. Außer vielleicht – unterschätze nie „einen, der einen Maßanzug schneidern kann“ (Susan Vahazaded, Süddeutsche Zeitung).

„The Outfit. Verbrechen nach Maß“, Regie und Drehbuch (Mit-Autor): Graham Moore. Derzeit noch in manchen Kinos und ab 18. August 2022 auf DVD.

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Mit dem neuen Sissi-Film von Maria Kreutzer könnte man es ganz kurz halten: „Ein öder, langweiliger Schmarren. Das Einzige, was OK war, sind die Kostüme“, so meine Kino-Begleiterin sofort, als die 112 Minuten endlich abgesessen waren. Und Kino-Betreibern sei vielleicht empfohlen, Fans der Sissi-Romy-Schneider- Trilogie (1955 bis 1957) keine Karten für diesen Film („‚Sissi‘ mit Magersucht und Depression“, so David Steinitz, Süddeutsche Zeitung, „dieser Film dürfte für deutsche Seelen eine ähnliche Provokation darstellen, wie das Thema Tempolimit auf der Autobahn“) zu verkaufen, wenn sie nicht riskieren wollen, dass ihnen hinterher ihr Lichtspielhaus abgefackelt wird.

Andererseits – es soll ja Menschen geben, die Regietheater nicht nur mögen, sondern für die überhaupt einzige Art halten, heute noch Stücke auf die Bretter, die angeblich die Welt bedeuten, zu bringen. Vor Jahrzehnten gab es zu Berlin eine Salome-Inszenierung, also der Strauss-Oper, da wurde aus Maschinenpistolen gefeuert. So krass treibt es Maria Kreutzer mitnichten. Da steht 1878 allenfalls mal ein Traktor im Bild, als Sissis Kutsche heranrollt. Und die Idee, heutiges Musikschaffen ins 19. Jahrhundert einzuweben, ist nachgerade näckisch – etwa wenn Sissi mit dem Bayernkönig Ludwig ein Tänzchen schiebt zu Kris Kristoffersons einschmeichelndem Song „Help Me Make It Through The Night“ oder wenn der von den Stones für Marieanne Faithfull hingezauberte Titel „As Tears Go By“ zur Intonation auf einer Harfe gesungen wird. Härter wird der Tobak erst, als Sissi von ihrem Hausarzt Heroin („neu auf dem Markt, ganz harmlos“) verordnet bekommt und ins Junkiehafte abdriftet. Das erinnert zwar an die frühe Arznei-Karriere der Droge, doch hatte sich das Chemieunternehmen Bayer die Synthese erst am 27. Juni 1898 patentieren lassen, und Sissi endete bekanntlich bereits am 10. September jenes Jahres durch die Hand eines attentäternden Meuchlers. Da war Sissi, folgt man der künstlerischen Freiheit Maria Kreutzers, allerdings bereits 20 Jahre tot, denn sie, Maria Kreutzer, hat entschieden, Sissi nicht weitere zwei Jahrzehnte in der komplett durchreglementierten Ödnis ihres Lebens am Wiener Kaiserhof vegetieren zu lassen: Die Gattin des Herrschers hatte zu repräsentieren und sonst nix; der Filmtitel „Corsage“ steht daher völlig unerotisch, aber absolut zutreffend für ein knastähnliches tägliches Regiment, in dem die einzige Verpflichtung der Kaiserin darin bestand, sich allmorgendlich die Haare flechten zu lassen, und in dem selbst ihre kaum zehnjährige Tochter bereits darauf dressiert war, dass Weinen sich nicht gehört. Bei Maria Kreutzer nimmt Sissi daher noch 1878 ihr Schicksal in die eigenen Hände, wenn auch auf eine Art und Weise, die dem feministischen Aktionismus unserer Tage kaum behagen dürfte.

Dem Besprecher übrigens war nicht eine der 112 Minuten langweilig, denn ihn faszinierte einmal mehr (siehe dazu Blättchen 4/2018) das ebenso minimalistische wie intensive Spiel der Hauptdarstellerin Vicky Krieps.

„Corsage“, Regie und Drehbuch: Maria Kreutzer. Derzeit in den Kinos.