25. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2022

Von der Salonschlange zur Grande Dame

von F.-B. Habel

Unvergessen bleibt mir das erste Mal, als ich Marion van de Kamp in den sechziger Jahren in der Volksbühne sah: In Eugène Scribes Komödie „Das Glas Wasser“ spielte sie die Herzogin (die Rolle, die Hilde Krahl in der Verfilmung gestaltete) mit einem Gipsarm in der Schlinge. Am selben Tag hatte sie sich bei DEFA-Dreharbeiten den Arm gebrochen – und spielte trotzdem! Besonders stürmischer Applaus war die Folge. Abgesehen von ihrer hand(und arm-)festen Zuverlässigkeit war die van de Kamp eine Schauspielerin, die von der „Salonschlange“ zur damenhaften Charakterdarstellerin wuchs. Zudem war sie im Theater im 3. Stock eine Vertreterin des literarischen Kabaretts von hohen Graden, die auch mit Plenzdorf-Texten überzeugte. Noch mit 60 (die ihr niemand abnahm) konnte ihr keine junge Kollegin das Wasser reichen, wenn sie Tucholskys „Lottchen“ interpretierte.

Die in niederländischer Familie in Barmen geborene und in Dresden aufgewachsene Schauspielerin war nach Anfangsjahren am Theater (unter anderem in Meiningen, Schwerin, Leipzig) 1953 eine der ersten Ansagerinnen des Adlershofer Fernsehens und ging 1955 an die Volksbühne. Hier wuchs sie schnell über ihr ursprüngliches Fach hinaus, etwa im Zweipersonenstück „Herr Lamberthier“ neben Armin Mueller-Stahl. Sie blieb dreieinhalb Jahrzehnte im Volksbühnen-Ensemble, wo sie ein breites Rollenspektrum bediente. Als sie 1986 im Theater im 3. Stock in „Geliebter Lügner“ der Elisabeth Bergner ihre Paraderolle nachspielte, schrieb der kürzlich verstorbene RIAS-Frühkritiker Heinz Kersten über ihren Auftritt: „Marion van de Kamp trifft die Töne der launischen Diva ebenso wie die Wärme der liebenden Frau, die sich im Amüsement über die Exaltiertheiten des Spötters als die stärkere Partnerin erweist.“ Damit fasste er gut zusammen, was die van de Kamp in ihrem gesamten Rollenspektrum auszeichnete.

Intendant Benno Besson habe sie „im Salonwagen auf ein Nebengleis gestellt“, sagte sie einmal. So hatte sie an der Volksbühne auch magere Zeiten, die ihr allerdings erlaubten, große Rollen vor der Kamera zu übernehmen. Sowohl beim Film (Chefin in „Hostess“, 1975) als auch im Fernsehen („Das unsichtbare Visier“, 1975–77) gestaltete sie unvergessliche Charaktere. Gerade in den letzten Wochen sah man sie im Fernsehen noch einmal in der Abenteuerkomödie „Mir nach, Canaillen!“ neben Manfred Krug und Erik S. Klein (1964) und in ihrem letzten Film „Bis zum Horizont, dann links“ (2012), wo sie neben Angelica Domröse und Herbert Köfer (ihrem Partner aus Gründungszeiten des Adlershofer Fernsehens) auftrat. Besonders anspruchsvolle Rollen spielte sie in der DFF-Reihe „Der Staatsanwalt hat das Wort“, etwa als Geschäftsfrau mit jüngerem Liebhaber in „Im Sog“ (1983/84) oder als Mörderin aus Verzweiflung in „Hubertusjagd“ neben Rolf Hoppe (1985).

Eine ungewohnte Aufgabe übernahm sie, als sie Ensemble und Mitarbeiter in Umbruchzeiten ins Intendantentriumvirat wählten, dem sie 1990/91 angehörte. 1992 wechselte sie zum Theater im Palais, dem kleinen Theater im Kastanienwäldchen. Das ehemalige Theater im Palast wurde privatisiert, und sie wurde als Mitgesellschafterin so eine Art Theaterdirektorin. Auch hier trat die Grande Dame neben anderen Rollen nochmals mit „Geliebter Lügner“ auf und holte prominente Gäste ans Haus, wie den Österreicher Ernst Stankovski, den sie bei Dreharbeiten kennengelernt hatte.

Als sie Ende Mai mit 96 Jahren starb, informierte niemand die Agenturen, so dass Marion van de Kamp ohne öffentliches Gedenken an ihrem Wohnort Berlin-Biesdorf die letzte Ruhe fand.