Russlands Krieg stärkt notwendigerweise die Suche nach einer historisch fundierten nationalen Identität des 1991 proklamierten ukrainischen Staats.
Diese geradezu existentielle Frage erfasst die Menschen in der Ukraine und die europäische Politik. Es ist unbestreitbar, dass das plötzliche Auftreten der Ukraine in der Weltpolitik für den Westen überraschend gekommen ist. Die über 40 Millionen ethnischen Ukrainer wurden bislang in der Regel als regionale Sondergruppe der Russen betrachtet. Trotz den seit 1917 in aller Welt von Emigranten ins Leben gerufenen ukrainischen Organisationen fristete die ukrainische Geschichte in Mittel- und Westeuropa als Gegenstand von Forschung und Lehre nur ein bescheidenes Dasein.
Eine wesentliche Ursache liegt dafür in der überaus komplizierten Geschichte der Ukraine, die sich keinesfalls in einer simplen Grenzziehung links und rechts des Dnipro (Dnjepr) erschöpft. Oft genug ist aus der fehlenden staatlichen Kontinuität die Nichtexistenz einer ukrainischen Nation geschlossen worden, sind die Begriffe Staat und Nation zum unversöhnlich erscheinenden Zankapfel gegensätzlicher Nationalismen in Politik, Wissenschaft, Religion und Öffentlichkeit ausgeartet.
In der Unabhängigkeitserklärung vom August 1991 hat sich das ukrainische Parlament auf eine tausendjährige staatliche Tradition der Ukraine berufen. Auf das Kiewer Reich des 10. bis 13. Jahrhunderts; das Fürstentum Galizien-Wolhynien des 13. und 14. Jahrhunderts; das Großfürstentum Litauen des 14. bis 16. Jahrhunderts; das Hetmanat der Dnjepr-Kosaken im 17. Jahrhundert; das Hetmanat von 1918 und die Ukrainische Volksrepublik der Jahre 1918–1920. Ein nationaler Mythos erlangte mit der Erklärung Gesetzeskraft. Ein Mythos, der historische und strukturelle Realitäten ausblendete.
Die Kiewer Rus war kein separates ukrainisches Reich, sondern ein mittelalterlicher Vielvölkerstaat von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, geführt von aus Skandinavien stammenden warägischen Fürsten, in dem die verschiedensten ostslawischen Völker lebten und das weniger durch den Hunnensturm, als vielmehr durch die Abspaltung von Teilfürstentümern zerfiel. Die Kiewer Rus wurde seit dem 14. Jahrhundert quasi aufgesogen. Zuerst vom Großfürstentum Litauen und nach der Lubliner Union von 1569 vom Königreich Polen-Litauen.
Nach der Kosakenrada von Perejasdlawl im Jahre 1654 und dem Aufstand der unabhängigen Saporoger Kosaken unter Bohdan Chmelnitzky trat das Hetmanat der Kosaken als relative Staatsorganisation in den Herrschaftsbereich der russischen Romanows. Schritt für Schritt und unfreiwillig bis hin zur Unterdrückung durch Katharina II. („die Große“), doch immer noch geteilt in eine rechts- und eine linksufrige Ukraine.
Nach den drei polnischen Teilungen ab 1772 und ab 1783 durch die russischen Eroberungen der Krim und der südlichen Ukraine, sowie der Beseitigung des Chanats der Krimtataren wurde die Ukraine als Aufmarschbasis unmittelbarer Kriegsschauplatz und zugleich Streitobjekt in Russlands und Österreichs Kriegen gegen das Osmanische Reich einbezogen.
Der Wiener Kongress von 1814/15 bestätigte die Aufteilung der Ukraine, besonders den österreichischen Besitz an Galizien, und verschärfte alle Abhängigkeitsprobleme der Ukrainer, indem er Polen zerschlug und Kongresspolen an Russland gab.
Im 20. Jahrhundert war die Ukraine begehrtes Eroberungsobjekt für Deutschland, Polen und die Sowjetunion. Alle drei Mächte fügten dem ukrainischen Volk unermesslichen Schaden an Leben und Gut zu.
Diese grobe Skizze staatlicher Abhängigkeiten erlaubt den Schluss: Seit dem 14. Jahrhundert war die Ukraine auf mehrere Herrschafts- und Kulturräume aufgeteilt, was entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich ihre Teilregionen politisch, wirtschaftlich, kulturell und religiös ganz unterschiedlich entwickelt haben und eine heutige einfache Trennung in einen prowestlichen und einen prorussischen östlichen Teil am Wesen der ukrainischen Geschichte vorbeigeht und damit politisch in eine Sackgasse führt.
Dazu kommt das schwerwiegende und belastende Erbe: Erst die Stalinsche Geopolitik im Zweiten Weltkrieg führte zur Vereinigung der meisten ukrainischen Gebiete in einem sowjetischen Staat. Daraus formierte sich der heutige ukrainische Staat – in seiner ganzen Instabilität der einzelnen Landesteile und behaftet mit den Folgen der Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins in der Sowjetunion. Heute überlagert der Krieg alle diese Probleme, aber morgen werden sie wieder auf der Agenda stehen.
Die Historiker, beauftragt, aus der Geschichte heraus eine nationale Idee und Identität der Ukraine zu formulieren, stehen seit 1991 vor einem Dilemma. Das Fehlen eigenstaatlicher Kontinuität, das nicht ausgeprägte Nationalbewusstsein und die nicht zu unterschätzende Problematik, einen geschlossenen ukrainischen Siedlungsraum aus der Geschichte heraus zu definieren, erschweren die Aufgabe, konkrete und übergreifende Untersuchungsgegenstände für die ukrainische Nationalgeschichte zu finden, die selbst im Meinungsstreit eine mehrheitliche Akzeptanz erreichen können.
Darum knüpfte die ukrainische Geschichtsschreibung nach 1991 an verschüttete Traditionen an. Zahlreiche historische Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden neu aufgelegt, die Arbeiten der Emigranten erstmals gedruckt und übersetzt. Bisher unzugängliche Quellen werden erschlossen, Tabuthemen wie die Nationalbewegung, die Hungersnot von 1932/33 und der Stalinsche Terror aufgearbeitet. An die Stelle der sowjetischen Ideologie ist ganz real die Suche nach einer nationalen Meistererzählung getreten, die die ukrainische Nation und die junge Staatlichkeit historisch legitimieren soll. Der Krieg stellt neue Fragen an die Geschichte.
Soll die Ukraine dauerhaft und fest in Europa integriert werden, bedarf es auch der historischen Identität mit diesem Europa. Einem Europa, in dem auf Grund der langen Traditionen vor allem die polnische Historiographie, die vornehmlich zur Epoche des 16. bis 18. Jahrhunderts, als weite Teile der Ukraine zu Polen-Litauen gehörten, aber auch zur Geschichte Galiziens wichtige Beiträge geleistet hat.
Wenn es aktuell auch politisch nahezu unmöglich erscheint, damit zu argumentieren: Die russische Historiographie hat zur mittelalterlichen Geschichte der Ukraine bedeutende Arbeiten beigesteuert hat, wie generell die nationale Wiedergeburt im 19. Jahrhundert ein Gemeinschaftswerk russischer und ukrainischer Dichter und Gelehrter gewesen ist.
Die Ukraine ist in ihrer fragilen Vielgestaltigkeit stets ein Grenzland und Schlachtfeld gewesen, auf dem die europäischen Großmächte ihre gewalttätigen Händel zum Schaden des einfachen Volkes ausgetragen haben.
Die Ukraine gewinnt durch die nationale Opferrolle keinen achtbaren Platz in Europa. In der Geschichte geht es vor allem darum, eine eigene ukrainische Optik zu finden und die ukrainische Geschichte von Unterordnung unter die Dominanz des russischen, polnischen, osmanischen, österreichischen und preußischen historischen Zentrismus zu befreien.
Es gilt, eingefleischte negative Stereotypen über den Ukrainer wie die über dessen unverbesserlichen Nationalismus und Antisemitismus, des verräterischen Kosaken und Partisanen (von Chmel’nyc’kyi und Mazepa über Petljura bis Bandera) oder von Leuten, die einen verdorbenen slawischen Dialekt sprechen und nichts als primitive Bauern sind, rigoros aus der Welt zu schaffen. Das wird sehr schwer sein, denn die Ukraine hat ja in der Geschichte nie die Chance erhalten, sich nach den international anerkannten Regeln einer bürgerlich-parlamentarischen Gesellschaft und der kapitalistischen Marktwirtschaft frei zu entwickeln. Jetzt, da diese Möglichkeit bestehen könnte, versperrt ein brutaler Krieg erneut den Weg. Wieder bleibt nur der Hilferuf an das Weltgewissen, noch dazu in einer weltpolitischen Konstellation, die es so noch nicht gegeben hat, in der die traditionellen Mechanismen der Konfliktbewältigung versagen und niemand voraussehen kann, wie die russische Aggression in der Ukraine enden wird. Die Politiker dieser Welt haben die Chancen der tatsächlichen Weltenwende nach 1989 aus Eigennutz verspielt.
Dennoch: Die kritische Auseinandersetzung mit den politischen Realitäten verlangt auch, die Traditionen und Mythen der national-ukrainischen Geschichtsschreibung gründlich zu hinterfragen. Einzelne im Rahmen der Nationalbewegung und der politischen Auseinandersetzung mit Polen, Russland und der Sowjetunion entstandene Auffassungen erfordern eine kritische Beleuchtung. Dabei müssen auch die Interpretationen der polnischen, russischen und jüdischen Historiographie durch die Ukrainer berücksichtigt werden. An Streitfragen ist dabei kein Mangel, von den Kontroversen über den Charakter des Kiewer Reiches und der Eingliederung der Ukraine in das Moskauer Reich bis zu den divergierenden Ansichten über die Zeit der Revolution und des Bürgerkriegs, so über die Chancen der ukrainischen Staatsbildung oder die Verantwortung für die schrecklichen Judenpogrome, und über die Rolle der Ukrainer im Zweiten Weltkrieg. Bei manchen Problemen ist es schwierig, zu einem begründeten Urteil zu kommen. Manche Problemlösungen werden gar durch die aktuelle militärpolitische Entwicklung blockiert.
Das ist eben die große Problematik und Widersprüchlichkeit der gesamten ukrainischen Geschichte: Die Geschichte der Ukraine muss im Rahmen der übernationalen Reiche, zu denen sie gehört hat, betrachtet werden. Gleichzeitig darf die Geschichte der Ukrainer nicht losgelöst werden von der Geschichte der anderen ethnischen Gruppen, die in der Ukraine lebten, der Juden, Polen, Russen, Deutschen, Griechen, Armenier, Bulgaren und Rumänen. Es ist eine Herkulesaufgabe.
Schlagwörter: Detlef Jena, Historiographie, Nationalbewegung, nationale Identität, Ukraine, ukrainische Geschichtsschreibung