Als das Gaienhofener Hesse-Haus im Dezember 2003 seinen Besitzer wechselte, war das ein ganz normaler Verkaufsvorgang. Doch für die neuen Eigentümer ging es um mehr. Eva Eberwein und ihr Mann wollten einem literaturhistorisch wichtigen Ort endlich die ihm gebührende Aufmerksamkeit verschaffen. Immerhin hatte Hermann Hesse mit seiner Familie fünf Jahre in diesem Haus gelebt.
Ihr unermüdlicher Einsatz lohnte sich: 2004 wurde das Haus in das Denkmalbuch des Landes Baden-Württemberg als Bau-(und Garten-)Denkmal besonderer Güte aufgenommen und bereits im Jahr darauf erfolgte die Auszeichnung mit dem Denkmalpreis des Landes Baden-Württemberg. Ein Förderverein wurde gegründet, und die ersten Führungen durch Haus und Garten fanden statt. Seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten wird zudem die Geschichte des Hauses und die seiner Bewohner erforscht. Dabei ist immer deutlicher zutage getreten, welchen Anteil Hesses Frau Mia an der Planung und Gestaltung hatte. Um diesen Beitrag zu würdigen, wurde das anfangs lediglich als „Hermann-Hesse-Haus“ bezeichnete Objekt auf Empfehlung des Landratsamtes Konstanz und genehmigt von der Gemeinde Gaienhofen im Jahr 2020 in „Mia-und-Hermann-Hesse-Haus“ umgewidmet.
Das von Eva Eberwein jetzt veröffentlichte Buch, das sich diesem Kleinod widmet, schließt inhaltlich an den von ihr im Jahre 2016 vorgelegten und mit dem Deutschen Gartenbuchpreis ausgezeichneten Band Der Garten von Hermann Hesse an (siehe Blättchen 25/2016). Ging es darin vor allem um die „Wiederentdeckung einer verlorenen Welt“ rund um das am Bodensee gelegene Haus, so steht dieses Mal die Geschichte einer außergewöhnlichen Landhausvilla im Mittelpunkt, die sich Mia und Hermann Hesse in der ländlichen Abgeschiedenheit Gaienhofens „sozusagen auf den Leib schneidern ließen“.
Als das junge Paar 1904 auf Wohnungssuche ging, war es dem Zufall geschuldet, dass sich ausgerechnet in Gaienhofen eine Wohnung fand. Gelegen in der Dorfmitte, gleich neben dem Schulhaus und der ehrwürdigen Mauritius-Kapelle, hatte das lange leerstehende und reichlich verwahrloste Bauernhaus dennoch etwas Anziehendes. Mit der Zeit jedoch wurde der Blick auf Haus, Dorf und Landschaft nüchterner – irgendetwas fehlte, um sich wirklich wohlzufühlen. Als 1906 der Mietvertrag seitens des Hausbesitzers wegen Eigenbedarf zum Sommer des Folgejahres gekündigt wurde, stand für beide fest: Wir bauen uns ein Haus nach unseren Vorstellungen. Schon Anfang 1907 konnte Hermann Hesse ein entsprechendes Grundstück zu dem für damalige Verhältnisse vergleichsweise lächerlichen Preis von 480 Reichsmark erwerben. Kurz darauf reichte er bei der Gemeinde die Pläne für ein zweigeschossiges, freistehendes Wohnhaus ein und bereits am 27. Januar 1907 wurde die Baugenehmigung erteilt. Nur acht Monate später konnten die Hesses mit ihrem erstgeborenen Sohn Bruno in das eigentümlich graugrün gestrichene Haus mit den petrolfarbenen Läden und dem milchig rosafarbenen Erdgeschoss einziehen.
Dem von Mia ausgewählten und mit der Ausführung beauftragten Baseler Architekten Hans Hindermann gelang es in hervorragender Weise, die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der zukünftigen Hausbewohner mit den damals propagierten Prinzipien der Lebensreform zu vereinen. Eberwein urteilt: „So entstand eine einzigartige Wohnstätte, die Schönheit, Nützlichkeit und bauliche Qualität unter einem Dach vereint.“
Schauen wir uns ein wenig um. Bereits der als Empfangsbereich und „Verteiler“ des Hauses angelegte Flur beeindruckt – was man von außen kaum erahnt – durch die Großzügigkeit der Raumgestaltung. Von hier gelangt man nicht nur in die funktional eingerichtete, ehemals von einem gusseisernen „feuerspeienden Herdungetüm“ beherrschte Küche. Ein paar Stufen führen hinab in den Keller, zu den für Besucher unsichtbaren Bereichen des Hauses. Neben einem großen Vorratsraum, in dem unter anderem all das gelagert wurde, was die Familie über den Winter brachte, befand sich die Waschküche.
Zurück im Erdgeschoss betritt man das Wohn- beziehungsweise Esszimmer. Wurde der in der Mitte des Raumes platzierte Tisch ausgezogen, bot er Platz für bis zu zwölf Gäste. Gleich daneben liegt ein in den nach Fertigstellung des Hauses veröffentlichten Bauplänen als „Zimmer d. Frau“ ausgewiesener Raum, den sich die ausgebildete Fotografin Mia Hesse ursprünglich als Atelier einrichtete (die dazugehörige Dunkelkammer befand sich im Keller). Die Kunden blieben allerdings aus, denn die Dorfbevölkerung hatte andere Sorgen, als sich ablichten zu lassen. Und so baute Mia ihre Gerätschaften ernüchtert ab und verwandelte das Zimmer in ihren persönlichen Schlafraum.
Auf dem Weg zu den oberen Räumlichkeiten kommt man am Kinderzimmer vorbei. Mit rund zwanzig Quadratmetern ist es nicht nur der größte Raum im Erdgeschoss, wie kein anderer spiegelt er mit einer Fülle von Details auch den umfassenden Anspruch des lebensreformerischen Zeitgeistes wider.
Es gibt wohl kaum einen Besucher, der Hermann Hesses im ersten Stock gelegenes Arbeitszimmer, die „Mitte von Allem“, ohne Ehrfurcht betritt. Immerhin ist es das einzige von ihm genutzte Studierzimmer, das nach über hundert Jahren noch authentisch erhalten ist. Dieser schönste und hellste Raum im Haus regt dazu an, so spürt es Eberwein immer wieder bei ihren Führungen, über das eigene Verhältnis zum Umgang mit Büchern und zur Arbeit im Allgemeinen nachzudenken. „Hermann Hesse ist gegangen, seine Aura ist noch da“ – anders lässt sich die besondere Atmosphäre dieses Ortes nicht beschreiben, wie Martin Maiers stimmungsvolle Fotografien verdeutlichen.
Mit ihrem Buch hat Eva Eberwein nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Alltagsgeschichte der Familie Hesse, sondern auch zum Verständnis der damaligen Wohnkultur geleistet. Hätte man nur den Text, das Haus stünde einem durch Eberweins eindringliche Beschreibung in seiner ganzen Eigenart sofort vor Augen.
Eva Eberwein: Leben im Einklang mit der Natur – Das Haus von Mia und Hermann Hesse, Fotografien von Martin Maier, Prestel Verlag, München/London/New York 2022, 160 Seiten, 32,00 Euro.
Seit 2005 sind Haus und Garten für Besucher geöffnet, nähere Informationen dazu findet man im Internet.
Schlagwörter: Hermann Hesse, Mathias Iven