25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Deutsche Interessen und Perspektive

von Herbert Bertsch

Mephistopheles: „Der ganze Strudel strebt nach oben;
du glaubst zu schieben und du wirst geschoben.“

Karine Jean-Pierre, Sprecherin von Präsident Biden, befragt zu Gerüchten und zutreffenden Plänen über eine Reise nach Saudi-Arabien, bekräftigte am 2. Juni das Grundprinzip US-amerikanischer Politik bei zwischenstaatlichen Beziehungen: „Ich kann Ihnen versichern, dass der Präsident sich in erster Linie darauf konzentriert, wie seine Gespräche mit ausländischen Staatsoberhäuptern den amerikanischen Interessen dienen.“ Das gilt auch für Saudi-Arabien, wenngleich der Präsident 2018 nach dem Mord an Jamal Khashoggi – bei mittelbarer Beteiligung von Kronprinz Muhammad Bin Salman, der auch wohl Gastgeber sein wird – sein Reiseziel als „Paria-Staat“ bezeichnete, den man dafür einen „hohen Preis zahlen lassen“ würde. Etwa zeitgleich zur Reiseankündigung offenbarte Außenminister Antony Blinken: In den vergangenen fünfzehn Monaten habe es eine „Neukalibrierung“ der Beziehungen nicht nur auf diesen Staat, sondern auf die Region gegeben mit der Konsequenz, noch wirkungsvoller und stetig alles zu tun, was den amerikanischen Interessen nützt.

Saudi-Arabien ist die drittgrößte Quelle der USA für importiertes Öl. Und aktuell wird besonders die Leistung beim Krieg im Jemen gewürdigt, von Präsident Biden als „mutige Führung“ belobigt. Zusätzliche Begründung der neuen Initiative mag ein Blick auf einige Wirtschaftsdaten (Stand Mai 2022) erbringen: Hauptabnehmerländer sind VAE mit 4,8 Prozent, gefolgt fast gleichauf von China (4,4 Prozent); die USA und Deutschland rangieren innerhalb von 86,6 Prozent als „Sonstige“. Bei den Hauptlieferländern jedoch dies Bild: China weit an der Spitze mit 20,2 Prozent, gefolgt von den USA mit etwa der Hälfte davon (10,7 Prozent) und, wiederum etwa der Hälfte davon, Deutschland (5,2 Prozent).

Auch Deutschland hatte seinerzeit auf die Ermordung Kashoggis reagiert, im offiziellen Sprachgebrauch „Tötung“ genannt. Am 25. Oktober 2018 telefonierte die Bundeskanzlerin mit dem saudischen König und vermittelte die Entschlossenheit, „zusammen mit internationalen Partnern angemessene Maßnahmen zu ergreifen“. So unterstützte ihr Bundeswirtschaftsminister denn auch die österreichische Forderung nach einem EU-Waffenembargo, „bis der Vorfall aufgeklärt sei“. Im Januar 2015 war die Weltöffentlichkeit schon einmal herausgefordert, als der Internet-Aktivist Ralf Badawi öffentlich ausgepeitscht wurde. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier verurteilte dies als grausam, falsch, „ungerecht und sowieso unverhältnismäßig“.

Bei einer von Amnesty International einberufenen Demo vor der saudischen Botschaft in Berlin sah man unter den Teilnehmern den damaligen Bundesvorsitzenden Cem Özdemir, der kürzlich, zwar nicht wie gefordert, Außenminister wurde, dennoch im Kabinett einen Platz kriegte. So weit, so günstig und Gewinn bringend für Personal und Partei. Aber jetzt ist man in Entscheidungsverantwortung: Da kommt man mit Prinzipien und sich selbst ins Hadern. Hoffnungsträger Habeck profiliert sich mit „innerer Zerrissenheit“; Jens Spahn von der CDU bestätigt ihm das gern, auch öffentlich.

Um Putin erfolgreich in der eigenen und internationalen Öffentlichkeit anzuklagen, zu verurteilen und per immer neuen Sanktionspaketen zu bestrafen, ist die bislang gesicherte und kostengünstige Lieferung von Rohstoffen, seit dem 12. August 1970 konfliktlos funktionierende Grundlage unserer Energieversorgung, eingeschränkt, öffentlich aufgekündigt, wird deren materielle Substanz systematisch zerstört. Nicht durch Sanktionen von Putin als Reaktion auf diesen Verstoß gemäß „Treu und Glauben“ durch Deutschland. Was jetzt geschieht, ist unmittelbar eigene Entscheidung, warum und mit wem auch immer als Sachzwang „abgestimmt“; mit Haupt- und Nebenwirkungen. Für solche Fälle sah Brecht als eine Möglichkeit voraus: Wer A sagt, muss nicht B sagen; A könnte auch falsch sein.

Die Welt ist voller Begründungen, Erklärungen und von praktischer Politik zur höchst möglichen Schädigung Russlands geprägt mit dem langfristigen Ziel, diese nukleare Großmacht so zu schwächen, dass sie kräfte- und ressourcenmäßig zu keinerlei Kriegführung mehr in der Lage wäre. Bliebe zu fragen, ob mit diesem Ergebnis eine größere Wahrscheinlichkeit einhergeht, dass es danach in der Welt keine Machtpolitik mehr geben werde, weil die US-geführte NATO in Zukunft ungehindert alles richtet, jedenfalls in Europa.

Egon Bahr bezog sich gegen Lebensende in einer Art Vorausschau auf „den weisen europäischen Polen Andrzej Szczypiorski“, der in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2000 die Frage stellte: „Haben die Deutschen eine Zukunftsvision?“ Auch eine weiche Version von: “Und es mag am deutschen Wesen, einmal noch die Welt genesen“ mit Erziehungsanspruch gegenüber anderen Staaten ist dafür jedenfalls nicht angebracht und untauglich.

Vizekanzler Habeck, zumal als Wirtschafts- und Energieminister, reiste zwecks Minderung der Sanktionsfolgen zu anderen Quellen der Energieversorgung. Dazu brauchte es Verhandlungsgeschick und Geld; mehr Geld als für die Höchstpreise. Er musste – erfolgreich – seine Partner dazu veranlassen, dass sie bisherigen Kunden auch bereits vereinbarte Lieferungen vorenthalten und direkt nach Deutschland umleiten. Schweigen wir da künftig besser bei oft beschworener Solidarität, wenn finanziell schwache Länder von Deutschland überboten werden: Geld als Waffe.

Ob nur bei Katar geordert wurde, oder ob „wir“ vermittels Umweg inzwischen auch beim moralisch noch verpönteren Saudi-Arabien einkaufen – der britische Premier Johnson war in Konkurrenz zeitgleich direkt in Riad – ist unerheblich. Nicht aber Habecks Versuch, bei einer Lanz-Sendung, hier zitiert nach einem Bericht vom 1. April 2022, die prinzipielle Verantwortung von der Politik auf „die Deutschen“ mit ihrem hemmungslosen Konsum zu verlagern.

Seine dort verkündete Erkenntnis ist, dass die Deutschen nicht immer so moralisch einwandfrei handeln, wie sie glauben: „Womit fahren eigentlich unsere Autos? Kann es sein, dass dort Öl aus Saudi-Arabien drin ist? Und wo ist eigentlich die Markus-Lanz-Sendung gewesen, wie verlogen wir sind, dass wir uns über Putin aufregen, aber mit saudischem Öl durch die Gegend gondeln?“ Fazit im Bericht: „ Der Vizekanzler zerstörte die Illusion, dass Deutschland immer auf der Seite der Guten steht.“ Ungeachtet dessen muss anderes Öl her als wie bisher. Denn, ceterum censeo: das Putin-System, am besten auch er selbst, gehören vernichtet.

Das ist gegenwärtig deutsches außenpolitisches Staatsziel, dem alles andere untergeordnet wird – mit Ausnahme von Kriegsgewinnen, auch von der eigenen Bevölkerung abgeschöpft; aber mit Segen des Finanzministers. Hinsichtlich der politisch-militärischen Mitwirkung gemäß Anforderungen der Ukraine gibt der Vorsitzende der „Grünen“ Omid Nouripour diese Strategie vor: „Aber wir sagen der Ukraine nicht, was sie zu tun hat. Wenn sie diese Territorien zurückerobern will, dann unterstützen wir sie. Und wenn sie verhandeln will, unterstützen wir sie auch.“

Für Verhandlungsaktivitäten ist Deutschland im Vergleich mit anderen Ukraine-Unterstützern offenbar weder zuständig noch gefragt. „Ich bin davon überzeugt, dass es die Rolle Frankreichs ist, eine vermittelnde Macht zu sein.“ So präsentiert Präsident Macron seine Mission. Der amerikanische Botschafter in Moskau, Jan Sullivan, hat der russischen Regierung am 6. Juni geraten, ihre Botschaft in Washington nicht zu schließen mit der dringlichen Bitte „Wir müssen die Fähigkeit bewahren, miteinander zu sprechen.“ Am gleichen Tag wurde bekannt, dass nach drei Monaten Krieg die Generalstabschefs der USA und Russlands telefoniert hätten „über Fragen von gegenseitigem Interesse, darunter auch über die Situation in der Ukraine“. Am 3. Juni hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin seinen russischen Kollegen Sergej Schoigu angerufen, dabei auf sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine gedrängt und die Bedeutung weiterer Kommunikation betont. Von deutschen Signalen hört man nichts; beim Abbruch der Kontakte fand man Deutschland weit vorne.

Was den Eingangsbezug zu „amerikanischen Interessen“ und die Pflicht der Politiker zu deren Wahrung angeht, handelt es sich keineswegs um Neuigkeiten, eher um bestätigte Realität. Egon Bahr informierte darüber in „Deutsche Interessen“: „Im Sommer 1996 haben 20 Amerikaner aus eigenem Antrieb eine ‚Kommission für Amerikanische Nationale Interessen‘ gebildet und ihren Bericht vorgelegt. Wer auch immer Präsident werden würde, sollte sich über die Priorität amerikanischer Interessen klar sein und seine Politik danach bestimmen können. […] An erster Stelle der vitalen Interessen steht die Verhinderung eines Angriffs mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen auf die USA. Danach folgt das Ziel, zu verhindern, dass sich in Europa oder Asien eine feindlich gesinnte Führungsmacht entwickelt oder eine bedeutende Macht jenseits der Grenzen, oder eine Macht, die fähig ist, die Meere zu kontrollieren. Am Schluss der vitalen Interessen rangiert die Sicherung der Verbündeten. […] Schaffung oder Erhaltung demokratischer Regierungsformen in anderen Staaten gehört zu den wünschenswerten Dingen, die aber weniger wichtig sind als die Aufgabe, Wohlfahrt für die Amerikaner zu erhalten und zu erweitern.“

Man könnte das gesamte Grundsatzdokument kurz so zusammenfassen: „America first“. Und dann im deutschen Auswärtigen Amt aushängen, damit man sich dort vor Missverständnissen der amerikanischer Außenpolitik schützt; aktuell besonders angebracht für Politik gegenüber Russland und der Ukraine.

Nachsatz:
Inzwischen wurde bekannt, dass der Staatsbesuch von Präsident Biden in Saudi-Arabien auf den 15. und 16. Juli terminiert ist. Kronprinz Mohammed bin Salman sei in die Diskussionen „eingebunden“. „Saudi-Arabien zufolge wollen beide Länder ihre ‚ausgezeichnete strategische Partnerschaft‘ stärken“, meldete ntv-online am 14. Juni 2022.