Anfang der 1980er Jahre wandte sich Superintendent Albrecht Steinwachs (1934–2012), zugleich Pfarrer der Wittenberger Stadtkirche, an Dr. Heinz Hoffmann (1935–2008), den Leiter des Kunstdienstes der Evangelischen Kirche. Er bat um Mithilfe in einem gemeinde-intern entbrannten Streit um Verbleib, Nichtverbleib oder künstlerische Entgegnung des Reliefs der „Judensau“ an Luthers Predigtstätte (siehe auch Das Blättchen 13/2022). In Vorbereitung des für 1983 in Wittenberg geplanten Evangelischen Kirchentags flossen auch staatliche Mittel in die Renovation der Stadtkirche. Etliche, zumeist jüngere Gemeindeglieder forderten aus diesem Anlass die Entfernung des „Rabini Schem HaMphoras“ überschriebenen Schandmals, auf dem ein Mann mit Judenhut den After eines Schweins inspiziert. Sich darauf beziehend, hatte Martin Luther 1543 seine antijüdische Schmäh- und Brandschrift „Vom Schem Hamphoras“ übertitelt. (Im Hebräischen steht der Begriff „Ha-Schem Ha-Mephorasch“ für eine der unausgesprochenen und tabuisierten Bezeichnungen Gottes.)
Heinz Hoffmann, der sich zu DDR-Zeiten vorrangig ideologisch bestrittenen Künstlerinnen und Künstlern seelsorgerlich zuwandte und ihren Werken im Freiraum der Kirchen zu Präsentationen und Ausstellungen verhalf, wusste um den Bildhauer Wieland Schmiedel (1942–2021) und dessen abgelehnte Entwürfe für die Neugestaltung des Eingangsbereichs in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald. Schmiedels abgelehnte Entwürfe sahen vor, den betonierten Gehweg in reliefartiger Andeutung menschlicher Leiber auszuformen, um den Eintretenden drastisch spüren zu lassen, worauf und wohin er seine Schritte lenkt.
Die Kenntnis dieser Entwürfe inspirierte Heinz Hoffmann, Wieland Schmiedel um ein Konter-Relief zur „Judensau“ zu bitten. Bei der Arbeit an diesem Mal baten mich die beiden um einen umrandenden Text. Im Gehpflaster unterhalb des Schandmals verlegte Schmiedel vier bronzene Platten. Unter dem Stichwort „Judensau“ kommentiert die Internet-Enzyklopädie „Wikipedia“ für meine Begriffe hinreichend: „1988 entwarf der Bildhauer Wieland Schmiedel im Auftrag der Wittenberger Stadtkirchengemeinde eine Gedenkplatte, die unterhalb des Judensaureliefs in den Boden eingelassen wurde. Sie verweist auf den Holocaust als historische Folge dieses Judenhasses. Ihre Trittplatten sollen etwas verdecken, das jedoch aus allen Fugen hervorquillt. Der umrahmende Text zitiert auf Hebräisch Ps 130,1 LUT (,Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir‘), auf Deutsch den Berliner Schriftsteller Jürgen Rennert: ,Gottes eigentlicher Name, / der geschmähte Schem Ha Mphoras, / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten, / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.‘“
Zu korrigieren ist lediglich, dass das Gegenmal nicht erst 1988 entworfen wurde. Denn bereits im November dieses Jahres erfolgte unter Beteiligung der Einwohner und eines Vertreters der Jüdischen Gemeinden in der DDR die öffentliche Einweihung. Seitdem hat es die Gemeinde der Wittenberger Stadtkirche nicht an Erläuterungen fehlen lassen, unter anderem mit einer kommentierenden Informationstafel und dem Druck unzähliger Postkarten.
In Erwartung der nächsten Prozesse um Abriss oder Verbleib des Schandmals, sehne ich mich nach der aufmerkenden Sensibilität und Belehrbarkeit von Betrachtern zurück, die vermutlich nur zu haben sind, wenn Freiheit und Meinungsfreiheit nicht als schlechthin gegeben gelten.
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