25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Der neue Saubermännerstreit

von Alfred Askanius

Michael Dietrich Düllmann, er ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Bonn, will auf dem Gerichtsweg die Entfernung des mittelalterlichen „Judensau“-Reliefs – es stammt aus dem Jahre 1290 – an der Wittenberger Stadtkirche erstreiten. Er ist der Auffassung, dass die zugegeben ekelhafte Schmähplastik eine Beleidigung für das Judentum sei und fühlt sich durch die Darstellung persönlich angegriffen. Düllmann scheiterte mit seiner Klage im Mai 2019 vor dem Landgericht Dessau-Roßlau, ebenso mit seinem Einspruch gegen die Landgerichtsentscheidung im Februar 2020 vor dem OLG in Naumburg. Auch dagegen ging er juristisch vor. Am 30. Mai 2022 wies der Bundesgerichtshof seine Klage ab.

Düllmann ignoriert allerdings vollständig, dass die Problematik des Reliefs mindestens seit 1988 diskutiert und dieser Ort inzwischen zu einer „Stätte der Mahnung“ wurde. Selbst Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, ist gegen eine Entfernung des Reliefs, erwartet aber zu Recht eine zusätzliche Tafel „die es eindeutig erläutert“. Der Zentralrat hält – was nachvollziehbar ist – die gegenwärtige Form der kirchlichen Distanzierung für nicht ausreichend. Schuster weiß, dass die Entfernung judenfeindlicher mittelalterlicher Darstellungen mitnichten ein wirksames Mittel zur Bekämpfung des wieder wuchernden Antisemitismus in unserem Lande ist. Die Düllmannsche Logik ist einigermaßen schlicht. Folgte man diesem Ansatz, würden alle Orte, an denen eine aufklärerische Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Judenhasses in Deutschland zwingend ist, verschwinden. Am Ende passierte dann „irgendwie“ die Shoah. Adolf Hitler ist’s gewesen. Den kann man nicht mehr belangen, und wir sind fein raus …

Übrigens müsste man – sollte sich Düllmanns Sicht durchsetzen – einen Großteil der religiösen Kunst des europäischen Mittelalters in den Orkus spülen. Das betrifft nicht nur die widerlichen „Judensau“-Reliefs wie das an einem Kapitell der Ernstkapelle im Magdeburger Dom (um 1270) oder jenes in der Zerbster Stephani-Kirche. Das beträfe zahllose bildliche Darstellungen des Lebens Jesu, gerade auch des Kreuzweges. Selbst so scheinbar harmlos an Kirchenportalen herumstehende Figuren wie die des Hl. Stephanus – nicht zufällig Namensgeber auch der Zerbster Kirche –, der in der Regel mit Steinen im Arm dargestellt ist, müssten zwingend entfernt werden. Der erste Bischof von Jerusalem wurde von den Juden der Stadt gesteinigt, erzählt seine Vita. Die Stephanus-Plastiken sind mithin eindeutig antisemitisch konnotiert – und zeigten bei den mittelalterlichen Pogromen durchaus Wirkung!

Dasselbe gilt auch für die immer paarweise erscheinenden Plastiken von Synagoge und Ecclesia – den Sinnbildern von „besiegtem“ Judentum und „triumphierender“ christlicher Kirche. Straßburg und Naumburg müssten diese Bildwerke entfernen. Bei genauerer Nachforschung wird man auf Interpretationen stoßen, die gerade bei der Gestaltung der Synagoge bei den beiden genannten Kathedralen einen Widerspruch des Bildhauers – es ist dieselbe Schule – gegen den primitiven Antisemitismus der Kirchenoberen des 13. Jahrhunderts zu sehen glauben. Dazu muss man diese Werke aber lesen können. Das funktioniert nicht mit dem im 20. und schlimmer noch im 21. Jahrhundert gebräuchlichen ästhetischen Vokabular. Wer sich einigermaßen ernsthaft mit den Bildwerken des Mittelalters auseinanderzusetzen sucht, kommt um die Aneignung zumindest von Grundlagen der christlichen Ikonographie nicht herum. Michael Dietrich Düllmann müsste das wissen. Vor seiner Konvertierung hatte er Evangelische Theologie studiert.

Alles in allem: Die Düllmannsche Bilderstürmerei ist alles andere als aufklärerisch. Sein Versuch, die Geschichte auszufegen, erinnert ein wenig an den Eiferer Johannes Pfefferkorn, der 1511 den „Dunkelmännerstreit“ mit Johannes Reuchlin lostrat. Nur dass Pfefferkorn seinerzeit den Talmud und alle anderen jüdischen Schriften im Feuer sehen wollte. Wie einige Jahre später auch Luther, womit wir wieder in Wittenberg wären …

Ich halte es für entschieden sinnvoller, diese Darstellungen jungen Menschen zu zeigen und sie ihnen zu erklären, diesen Bildwerken den Nimbus der Harmlosigkeit zu nehmen – und auf ihre seinerzeitigen Wirkungen aufmerksam zu machen. An den originalen Orten. Natürlich kann man – denkt man Düllmanns Ansatz konsequent zu Ende – die Nürnberger Frauenkirche (1352–1362) wieder abreißen. Wer aber die Geschichte der Ermordung von 562 Nürnberger Juden und die planmäßige Zerstörung ihrer Häuser und ihrer Synagoge im Jahre 1349 nachhaltig erzählen will, sollte dies vor der gotischen Prunkfassade dieses Gotteshauses oder gleich am „Schönen Brunnen“ tun. Unweit davon, an einem Pfeiler der Sebalduskirche, findet sich auch eine „Judensau“. Die Kirchengemeinde von St. Sebald hat sich in Kooperation mit der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg geradezu beispielhaft mit diesem Machwerk auseinandergesetzt. Seit 20. Mai 2022 ist im Pfarrhof von St. Sebald die Ausstellung „Stein & Tür“ zugänglich. Ein Vorbild für Wittenberg?

Im deutschen Verb „begreifen“ steckt „greifen“. Geschichte sollte man – bildlich gesprochen –, wo es möglich ist, mit Händen greifen können. Dann bleibt auch etwas haften. Weder im 13., noch im 14. und auch nicht im 16. Jahrhundert wurde die Shoah vorbereitet. Aber einige ihrer geistigen Wurzeln gehen bis in das christliche Mittelalter zurück und wurden nie abgehackt. Die muss man freilegen und nicht „museal“ einsargen. Nur was man kennt, kann man auch wirkungsvoll bekämpfen.

Gerichtsurteile, selbst höchstrichterlicher Natur – Düllmann will jetzt vor das Bundesverfassungsgericht ziehen –, nutzen da gar nichts.