25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Tage im Mai

von Detlef D. Pries

Der Tag vor dem Erscheinen dieser Blättchen-Ausgabe war der 8. Mai. Als „Tag der Befreiung“ ist er vielerorts in Europa ein Gedenktag, an dem man sich des Endes des Zweiten Weltkriegs, der Befreiung der Völker vom Joch des deutschen Faschismus erinnert und achtungsvoll der Befreier gedenkt. Linke, Gewerkschaften, vor allem aber die Überlebenden der Konzentrationslager forderten wiederholt, den 8. Mai in Deutschland zum gesetzlichen Feiertag zu erklären. Eine entsprechende Petition mit 175.000 Unterschriften hat die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten vor Tagen an den amtierenden Bundesratspräsidenten, Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow, übergeben.

Die Forderung wird nicht ohne Widerspruch bleiben. Gewiss sind seit Richard von Weizsäckers denkwürdiger Rede am 8. Mai 1985 selbst in der CDU die Stimmen derer zurückhaltender geworden, die da meinten: „Niederlagen feiert man nicht!“ Jetzt aber wird es heißen, dass man eine Befreiung nicht feiern könne, wenn zur gleichen Zeit russische Nachfahren der einstigen Befreier ihre ukrainischen Nachbarn mit brutalem Krieg überziehen.

„Nach schwierigen und sehr notwendigen Diskussionen“ gedachte die Lagergemeinschaft Ravensbrück kürzlich der Soldaten und Soldatinnen der Roten Armee, die das Frauenkonzentrationslager bei Fürstenberg an der Havel im April 1945 befreit hatten. Die Anwesenden gedachten ihrer „im Herzen und mit Respekt“ – und verurteilten zugleich den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine „genau wie die Kriege in anderen Teilen der Welt“. Sie taten dies im Wissen darum, dass der russische Überfall auf die Ukraine auch ihr Gedenken und die Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalismus zu Kampfplätzen werden lässt.

Schon vor dem 8. Mai war das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park mit russlandfeindlichen Parolen und Hakenkreuzen beschmiert worden und aus der Berliner CDU kam die Forderung, die historischen Panzer am Ehrenmal im Tiergarten müssten aus dem Stadtbild verschwinden. Die Geschütze stünden nicht mehr für die Befreiung Deutschlands und Europas vom Nazi-Faschismus, sondern sie würden „zu Symbolen der aggressiven und territoriale Grenzen und Menschenleben missachtenden Kriegsführung des Putin-Regime“. An diesem Ehrenmal liegen die Gräber von 2500 sowjetischen Soldaten und niemand hat bisher unterschieden, ob die Gefallenen Russen, Ukrainer oder Angehörige anderer Völker der Sowjetunion waren. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Das war einst die Hoffnung der Überlebenden. Heute stehen sich in der Ukraine Soldaten gegenüber, deren Vorfahren in der Roten Armee gemeinsam gegen den Hitler-Faschismus gekämpft haben – und sie nennen sich gegenseitig „Faschisten“!

Vor zwölf Jahren noch paradierten neben Streitkräften aus Frankreich, Polen, Großbritannien und den USA auch Truppen aus ehemaligen Republiken der Sowjetunion, darunter der Ukraine, über den Roten Platz in Moskau. Gemeinsam beging man 65 Jahre nach Kriegsende den „Tag des Sieges“, der in den Nachfolgestaaten der UdSSR traditionell am 9. Mai gefeiert wird. Ursprünglich, noch bevor in Moskau militärische Großmacht demonstriert wurde, war das in der Sowjetunion ein stiller Gedenktag, ein Tag „mit Tränen in den Augen“. Hatte doch fast jede sowjetische Familie Opfer zu beklagen. Überlebende Veteranen des „Großen Vaterländischen Krieges“ trafen sich im Gorki-Park unter den Tafeln ihrer Truppenteile und tauschten Erinnerungen aus. 1991 war es, als ich unterm Schild der 3. Stoßarmee Iwan Serdjukow ansprach. Allein stand er da. Als 17-Jähriger in den Krieg gezogen, hatte er schreckliches Blutvergießen, unbeschreibliche Leiden überlebt. Serdjukow wäre heute 98 Jahre alt. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Die Zahl der Veteranen schwindet ebenso wie die der von ihnen befreiten KZ-Gefangenen zusehends. Die bohrende Frage bleibt: Wären auch sie, die die Schrecken des Krieges kannten, dem nationalistischen Rausch verfallen, der zumindest einen Teil der russischen Bevölkerung seit dem 24. Februar ergriffen hat, als ihr Präsident erneut einen Krieg vom Zaun brach? Man mag es nicht glauben.

Den erbarmungslosen Überfall auf die Zivilbevölkerung der Ukraine mit Raketen, Bomben, Granaten und Maschinengewehren als „Entnazifizierung“ zu bezeichnen, ist jedenfalls absurd. Und die Losung „Für eine Welt (einen Frieden) ohne Nazismus“ (beides ist im Russischen gleichbedeutend), hinter der sich die Putin-Gefolgschaft in Moskau womöglich auch an diesem 9. Mai versammelt, ist zynisch.

Derweil tobt auch hierzulande der Streit, wie dem Blutvergießen und den Zerstörungen ein Ende zu bereiten ist, wie man dem Kriegsherrn Einhalt gebietet. Indem man immer mehr und immer gefährlichere Waffen ins Gefecht wirft, womit die Gefahr wächst, dass der Krieg zum atomaren Inferno wird? Indem man „die Russen“ mit würgenden Sanktionen in die Knie zwingt, unter denen Putin selbst am wenigsten leiden wird? Müssten Strafmaßnahmen und „Sanktionspakete“ nicht wenigstens mit substanziellen Verhandlungsangeboten verknüpft werden, die berechtigte russische Interessen nicht ignorieren? Schon wer solche Fragen stellt, wird als „Putin-Verteidiger“ denunziert. Nicht Argumente, sondern Verdächtigungen und Beleidigungen schwirren durch die „sozialen Netze“.

„Mit Russland können wir nur dessen Kapitulation unterzeichnen“, erklärt rigoros der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Olexij Danilow, im ukrainischen Fernsehen. Und sein Präsident Wolodymyr Selenskyj macht faktisch die russische Kapitulation zur Vorbedingung eines Waffenstillstands. Wer dagegen beide Seiten zu Kompromissbereitschaft statt Kriegsverschärfung aufruft, weil letztlich nur ein Friedensabkommen dem Grauen ein Ende bereiten kann, der wird wahlweise zur Fünften Kolonne Moskaus gerechnet und als „Lumpen-Pazifist“ oder gar seinerseits als „Kriegstreiber“ verunglimpft.

Düstere Aussichten in diesen Mai-Tagen!

(5. Mai 2022)