25. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2022

„Front-Stadt“ und „Front-Staat“: Appelle an die Welt

von Herbert Bertsch

„Rem viderunt, causam non viderunt – Die Sache haben sie gesehen, die Ursache haben sie nicht gesehen“

(Augustinus von Hippo, 354–430)

Eine der „Ursachen“ dafür ergibt sich aus seiner Zeit-Definition:  „Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten: die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. … Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung, und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung.“ (Augustinus, Confessiones, Buch XI). Das Modell könnte auch für das Verständnis unserer „Gegenwart“ nützlich sein.

Wem aktuell die Veröffentlichung „Vorposten der Freiheit“ unterkommen sollte würde wahrscheinlich vermuten, hier ginge es in der täglich anwachsenden Flut von Literatur im weitesten Sinne um den Krieg in der Ukraine. Tatsächlich geht es bei der Titelwahl um ein Ereignis während der sowjetischen Blockade der „besonderen Einheit Westberlin“ (DDR-offiziell so benannt) vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949. Mittelbar hat dennoch beides miteinander zu tun: Westberlin und die Ukraine; das zitierte Buch überdies unmittelbar als nützliche Quelle.

Am 9. September 1948 zelebrierte Ernst Reuter, der damalige SPD-Oberbürgermeister, vor etwa 300.000 Westberlinern eine Konzeption für Widerstand und Gegenmaßnahmen, die darin gipfelten, die Westsektoren der ehemaligen Hauptstadt Deutschlands würden durch die schlagartig veränderten Bedingungen vor Ort zum „Vorposten der Freiheit“ des Westens.

Die Luftbrücke bildete die materielle Sicherstellung der kommunalen Lebensfähigkeit. Das war Sache der Schutzmächte, wobei nicht wenige Politiker und auch andere Deutsche unmittelbar eine direkte militärische Reaktion zu Lande forderten. Auf solche Ansinnen sollen entweder Eisenhower oder McCloy, als jeweils höchster amerikanischer Militärgouverneur, mit der Frage geantwortet haben: „Und wo wollen wir unterwegs tanken?“

Für die politische Führung kam es darauf an, die Moral der Westberliner gegen die „Macht der Finsternis“ zu etablieren, womit der latente Antikommunismus verbrämt wurde. Man darf nicht vergessen: Dies alles vollzog sich gerade drei Jahre nach Eroberung Berlins mit den Auswirkungen der militärischen und politischen Niederlage. Aspekte der „Befreiung“ waren da keineswegs vorherrschend, zudem von Ostberlin vordergründig „besetzt“ – unakzeptabel.

Vor allem ging es darum, den geostrategisch eng begrenzten Vorgang als Ereignis für und vor der „ganzen Welt“, diese moralisch verpflichtend, zu interpretieren: „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt nicht preisgeben dürft. … Völker der Welt, tut auch ihr eure Pflicht.“

Gemessen an den damaligen Kommunikationsmöglichkeiten hatte diese Rede sowohl aktuelle als auch prinzipielle Bedeutung. Manche Autoren stellen sie in eine Reihe mit der von Churchill am 13. Mai 1940 mit dessen Appell an die Engländer, man werde letztlich siegen, aber der „Kampf um die Freiheit“ würde Blut, Schweiß und Tränen kosten. Demonstrativ nahm John F. Kennedy am 26. Juni 1963 den Appell nach 15 Jahren in Berlin am Schöneberger Rathaus wieder auf mit dem häufig zitierten Schlusssatz: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner.“

Offenbar hat man sich in der Ukraine dessen erinnert. Wer – fast allabendlich und überall – den ukrainischen Präsidenten zum einseitigen Gespräch empfängt, wird unschwer vergleichbare Worte und Satzkonstruktionen aus der damaligen „Frontstadt Berlin“ nun aus dem „Frontstaat Ukraine“ erkennen; jetzt verbunden mit der Aufforderung an Deutschland zur bedingungslosen Unterstützung der ukrainischen Interessen, wie es seinerzeit von der Welt solidarisch gegenüber Westberlin geübt worden wäre.

Dieser Zusammenhang ist sachlich nicht so schlüssig wie verkündet, aber höchst wirkungsvoll, was für erfahrene Spezialisten der psychologischen Kriegsführung im Hintergrund spricht. Westberlin und der seinerzeitige Umgang mit dieser komplizierten Gemengelage bestätigt nämlich, dass trotz scheinbar unauflösbarer Komplikation innere und äußere Voraussetzungen geschaffen werden konnten, die ohne Sieg oder Niederlage zum Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 führten. Dadurch konnten die damaligen Ost-West-Konflikte in Bezug auf und in Berlin entschärft, manche Voraussetzungen zur deutschen Einheit geschaffen, zumindest genutzt und die militärische Auseinandersetzung vermieden werden. Interessante Erinnerung!

Hinsichtlich solcher Erwägungen ist auch die erwähnte Veröffentlichung mit Anliegen, Quellen und Wertungen zu begrüßen, Der Sachtitel lautet: „Remigranten an der Macht im geteilten Berlin (1940–1972)“. Wer und was sind „Remigranten“, und wieso werden dem Band aktuelle Bezüge attestiert? Um möglichen Irrtümern vorweg zu begegnen: Dieser Begriff bezieht sich auf eine ganz bestimmte Klientel politischer Emigranten, die aus Deutschland „auswandern“ mussten und sich, wiederum politisch motiviert, nach der Befreiung dem Aufbau eines antifaschistischen, demokratischen Deutschland zu Verfügung stellten; in Westberlin konzentriert als Sozialdemokraten.

Von deren Wirken handelt das Werk, das der Verlag so beschreibt: „Im Kalten Krieg wandelte sich der Westen Berlins von der Hauptstadt der NS-Diktatur zum Symbol für Freiheit und Demokratie. Scott H Krause zeigt, daß dies besonders auf eine enge Kooperation zwischen der antikommunistischen US-Außenpolitik und einem Netzwerk von Remigranten der eigentlich marxistischen SPD um Willy Brandt zurückging. Mittels PR und amerikanischen Zuwendungen inszenierten sie die Stadt gemeinsam als ‚Vorposten der Freiheit‘ gegenüber der SED, aber auch innerparteilichen Rivalen. Brandts Einzug ins Schöneberger Rathaus 1957 markierte einen Meilenstein für die Westbindung der SPD. Der Mauerbau der DDR erschütterte diese Meistererzählung, spornte Brandt aber zur Suche nach neuen Lösungsansätzen an. Indem einst gescholtene Emigranten prowestliche Mehrheiten links der Mitte schufen, trugen sie entscheidend zur Westintegration der Bundesrepublik bei.“

Damit sind wir in unmittelbarer Aktualität und bei „künftiger Gegenwart“. Die Sympathie des Autors für Brandt zunächst in Westberlin und danach in der Bundespolitik ist eindeutig, einschließlich Überhöhungen. So benennt er einen Abschnitt „Berlin als Labor für Brandts Neue Ostpolitik“ und offeriert dafür dieses Beispiel: „Bei einem informellen Treffen umriß der neugewählte Kanzler seine Außenpolitik mit den Worten: ‚unmittelbar nach (Bildung der) Regierung Entspannung (beginnen)‘. Brandt sah eine Chance, dieses hochgesteckte Ziel zu verwirklichen, wenn es ihm gelang, mit mehrere Staaten in Verhandlungen zu treten. So wurden schnell Verträge mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen ausgehandelt, in denen sich beide Seiten zu einem Engagement für Frieden in Europa und der Anerkennung der Grenzen von 1945 verpflichteten.“

Diese bislang als erfolgreich geltende Politik wird nun nicht einmal mehr von allen Brandt-Nachfolgern als günstig bewertet. Und die Anklage gegen dies deutsche „Fehlverhalten“ mit Forderung nach „Wiedergutmachung“ wird dann der „Regierende Ukrainische Botschafter“ in Berlin schon noch vertreten – vermutlich weiterhin mit Duldung des deutschen Außenministeriums.

Scott H. Krause: „Vorposten der Freiheit“ – Remigranten an der Macht im geteilten Berlin (1940–1972), Campus Verlag Frankfurt/New York, 2022, 351 Seiten, 36,00 Euro.