25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Wenn vieles ins Wanken kommt. Sehr vieles

von Matthias Dohmen

Die Angst vor einem Atomkrieg ist nicht neu. Sie war die ganze Zeit des Kalten Krieges virulent und wurde Mitte der 1980er Jahre, getragen von Millionen Menschen, in Europa zum Motor einer alle Grenzen überschreitenden Friedensbewegung und ließ Fronten aufweichen, die unüberbrückbar schienen.

Wir schreiben über das letzte Jahrzehnt des Ost-West-Konflikts, das den „freien Westen“, eine von der UdSSR geführte Staatengemeinschaft und eine seinerzeit sehr aktive Bewegung der Blockfreien kannte. China und Indien bleiben an dieser Stelle ausgeklammert. In der damaligen internationalen Arena entwickelten sich Bewegungen und Bündnisse, die nicht länger gewillt waren, am Rande der atomaren Vernichtung zu balancieren, quer zu den etablierten Lagern.

Zahlreiche Initiativen dienten der Schaffung einer kernwaffenfreien Zone auf dem europäischen Kontinent. So trafen sich Ende 1988 Vertreter von 17 Parteien aus dem sozialdemokratischen und dem kommunistischen Umfeld, darunter die SPD und die niederländische Partei der Arbeit auf der einen und die SED, die KPdSU und die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei auf der anderen Seite, in Bonn zu einer dreitägigen Veranstaltung über „Streitkultur und Friedenspolitik“. Öffentlich warf der stellvertretende Direktor des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU, Juri Krassin, die Frage auf, „ob die bestehenden Unterschiede den Vorwand für ideologische Konfrontation oder einen Faktor der gegenseitigen Bereicherung bilden“ sollten. Ein derartiges Treffen fand erstmalig statt. Auf einer Pressekonferenz zum Abschluss nannte der sozialdemokratische Vordenker des SPD/SED-Dialogpapiers, Erhard Eppler, die Veranstaltung einen Schritt zu dessen „Entgermanisierung“. Es trug den Namen „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, auf das sich hochkarätig besetzte Arbeitsgruppen beider Parteien geeinigt und von den jeweiligen Parteiführungen 1987 hatten absegnen lassen.

Vier Jahre hatte eine gemeinsame Arbeitsgruppe von SPD und Polnischer Vereinigter Arbeiterpartei (PVAP) gebraucht, um 1988 ein Papier über „Kriterien und Maßnahmen für vertrauensschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa“ in Bonn ausgearbeitet. Fragen von Sicherheit und Abrüstung in Europa waren auch Gegenstand von Treffen der (West-) FDP mit der (DDR-) LDPD über die Jahre, beginnend Mitte der 1960er-Jahre bis hin zur Wiedervereinigung.

Dass es in den Führungsgremien beider Parteien Politiker gab, die den Prozess der Erarbeitung des Dialogpapiers als für ihre Position gefährlich oder zumindest in der Öffentlichkeit für problematisch erachteten, ist nicht weiter verwunderlich. Zumindest vor dem Fall der Berliner Mauer distanzierte sich die SPD von derartigen Unterstellungen. So erinnerte sich Erich Hahn, der von SED-Seite an allen Treffen der gemeinsamen Arbeitsgruppe teilnahm, daran, dass im April 1988 Otto Reinhold die SPD-Politiker darauf hinwies, dass im öffentlichen Raum Erklärungen existierten, „die den Anschein erweckten, das Papier sei nur zustande gekommen, um die DDR nach westlichen Vorstellungen zu verändern“.

Erhard Eppler ist im Nachwort zu dem umfassenden Werk Rolf Reißigs über die SED/SPD-Gespräche der „Legende“ entgegengetreten, „die SPD habe die Gespräche geführt, um die DDR zu destabilisieren“. Zu Beginn der Gespräche hatte er erklärt, es sei eine „historische Einmaligkeit“, dass es zum ersten Mal seit sieben Jahrzehnten zwischen Vertretern der beiden Parteien zu Gesprächen über theoretische Grundsatzfragen gekommen sei.

Längerfristig stellte der sozialdemokratisch-kommunistische Dialog auch die „interne“ Abgrenzungspolitik in Frage. Bei dem internationalen Treffen über „Streitkultur und Friedenspolitik“ hätte es die SED gerne gesehen, wenn auch die DKP und andere kommunistische Parteien des Westens teilgenommen hätten. Auf der Pressekonferenz in Bonn darauf angesprochen, sagte Thomas Meyer für die SPD, ein solcher Schritt sei „nicht fruchtbar zum jetzigen Zeitpunkt“. Er gab den Ball zurück: Die Sozialdemokraten würden dem aber unter der Voraussetzung zustimmen können, dass „geistige Vertreter von Oppositionsbewegungen“ aus den sozialistischen Staaten teilnehmen würden.

Die Gespräche zwischen SED und SPD kamen ohne Zweifel nur zustande, weil sich Erich Honecker und Willy Brandt persönlich über Widerstände in ihrer jeweiligen Umgebung hinwegsetzten.

Um die handelnden Personen besser einzuschätzen, ist es ratsam, sich mit dem Verhältnis der Führungen der KPdSU und der SED zu beschäftigen. Herbert Häber zufolge existierten im Politbüro der SED zwei Gruppierungen, von denen die erste von Honecker und die zweite von Stoph geführt wurde, der der Vertrauensmann der Sowjets zu sein schien und von dem regelmäßig schriftliche Berichte nach Karlshorst gingen, den Sitz des Moskauer Geheimdienstes in der DDR.

Honecker ging Häber zufolge davon aus, dass „nicht nur die Nato, sondern auch die sowjetische Armeeführung“ weiterhin von der Position eines „führbaren Atomkrieges in Mitteleuropa“ ausging. „Es war für ihn klar: Dies würde die totale Vernichtung nicht nur der DDR, sondern Deutschlands überhaupt bedeuten“. Aus dieser Einsicht „resultierte sein Verhalten während der Raketenkrise“. Kohl und Strauß hielten Honecker vor diesem Hintergrund für einen Mann, dem nationale deutsche Gesichtspunkte etwas bedeuteten.

Während angesichts des als äußerst gefährlich empfundenen Rüstungswettlaufs nationale Gesichtspunkte neu justiert wurden, kam es auf der politischen Linken zu einer veränderten Bewertung der Kräfte, die stark an die Zeit unmittelbar nach Kriegsende und Befreiung und in einem weiteren Rahmen an Auseinandersetzungen in der Novemberrevolution, den 1920er- und den 1930er-Jahren erinnert.

Das Bedürfnis nach Einheit aller antikapitalistischen, militarismusfeindlichen und demokratischen Kräfte war sehr groß – und die Kommunisten, die jahrzehntelang erfolgreich ausgegrenzt worden waren und mit ihrer Politik stark dazu beigetragen hatten, dass man sie leicht ins Abseits schieben konnte, waren vorübergehend wieder ein gefragter Gesprächspartner.

An sie wurden Hoffnungen gerichtet, eine offene Position zur Demokratie, zur konkurrierenden Sozialdemokratie und zur nationalen Frage einzunehmen. Sollte jetzt nachhaltig möglich werden, was in der Weimarer Republik nur in schmalen Ansätzen hatte realisiert werden können und worauf man 1945 vergeblich gehofft hatte? Änderte sich die UdSSR?

Eine Annäherung der nationalen Standpunkte kam rückblickend 1987 gerade in der Erinnerung an „große Tote unseres gemeinsamen Vaterlandes“ zustande. Helmut Kohl konstatierte bei einem Symposium zum 80. Geburtstag von Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Palais Schaumburg, er sehe es als „aufschlussreich an, wenn die Geschichtsschreibung in der DDR den 20. Juli 1944 nunmehr differenzierter sieht und das Attentat als Versuch ‚zur Rettung des deutschen Volkes’ wertet, der von einer ‚vaterländischen Front aller demokratischen Kräfte einschließlich der Kommunisten’ getragen worden sei“.

Viele der hier genannten Akteure und Organisationen und Staaten existieren nicht mehr. Ihre Rezepte: dito. Die Welt ist eine ziemlich andere. Aber dass gerade in einer sich scheinbar ständig zuspitzenden Situation Kreativität gefordert ist, das Vortasten in unbekannte Dimensionen, die Suche nach dem turnaround, können uns die 1980er-Jahre lehren. Die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr war eine Antwort auf Prag 1968.