Bei der turnusmäßigen Parlamentswahl in Ungarn am 3. April 2022 erreichte Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei im Bündnis mit der Christlich-Demokratischen Volkspartei (die KNDP war 1989 eine wiedergegründete Partei von vor dem Realsozialismus) erneut eine Zweidrittelmehrheit. Orbáns Liste erhielt 135 von 199 Sitzen im Parlament, das Oppositionsbündnis von sechs Parteien – von links bis liberal und grün bis zur ursprünglich rechten Jobbik-Partei – 56 Sitze, die neurechte Partei Mi Hasánk Mozgalom (rechte „Bewegung für unsere Heimat“, eine rechte Abspaltung von Jobbik) 7 Sitze und ein Kandidat der deutschen Minderheit (der nicht der Prozenthürde unterlag) eben einen Sitz. Viktor Orbán kann in Ruhe mit dieser verfassungsändernden Mehrheit weiterregieren
Allerdings sollte man dem Alarmismus der linken Opposition nicht folgen, die gleich nach der Wahl wieder verkündete, es sei nicht sicher, ob jemals wieder Wahlen in Ungarn stattfinden werden. Orbán hat stets penibel darauf geachtet, die von ihm seit 2010 geschaffene Verfassungs- und Rechtsrealität strikt zu achten. Auf Betreiben der Opposition waren über 200 Wahlbeobachter im Lande unterwegs, darunter von der OSZE. Unregelmäßigkeiten im Wahlablauf, Wahlfälschung und Stimmenkauf konnten sie nicht feststellen. Sie bestätigten lediglich erneut, wie schon bei den früheren Wahlen, dass die Medien eher im Sinne der Regierung als der Opposition wirkten. Da dürfte Ungarn jedoch kaum das einzige Land in der EU sein. Und dass das Wahlsystem den Wahlsieger begünstige. Das ist aber in Griechenland, Spanien und anderen EU-Ländern auch so und ebenfalls keine Spezifik von Orbáns Ungarn.
Das politische System Ungarns war in den Jahren nach dem Ende des Realsozialismus zunächst dadurch geprägt, dass konservativ und sozialistisch geführte Regierungen einander ablösten. Die ersten freien Wahlen in Ungarn 1990 gewann eine konservative Koalition, 1994 bis 1998 regierte eine sozialistisch geführte Koalition und 1998 bis 2002 erstmals Viktor Orbán, danach wieder die Sozialisten. Im April 2010 errang Viktor Orbán mit Fidesz (und KNDP) 263 der damals 386 Parlamentssitze und verfügte so über 68 Prozent der Mandate, fünf Sitze mehr, als für eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die nutzte er und oktroyierte eine neue Verfassung, ein neues Mediengesetz und ein neues Wahlrecht. Ziel war, eine rechte Dominanz langfristig zu sichern und für lange Zeit „durchzuregieren“. Das wird er nun weitere vier Jahre tun.
Schauen wir auf das Wahlsystem. Das nach 1989 geschaffene war kompliziert, aber praktikabel. Nach den Umbrüchen Ende der 1980er Jahre wurde in vielem das Wahlsystem der BRD übernommen: das politische Gewicht liegt beim Parlament mit einer aus der Parlamentsmehrheit hervorgehenden Regierung (Kanzlerprinzip), eine Sperrklausel, mindestens fünf Prozent, für Parteienbündnisse höher, Wahlkreiskandidaten und Parteilisten. Die Parlamentssitze wurden jedoch nicht hälftig aufgeteilt, wie in Deutschland zum Bundestag, sondern 176 Abgeordnete wurden in den einzelnen Wahlkreisen gewählt, 152 über regionale Kandidatenlisten der Parteien und 58 ergaben sich aus einer Zusammenrechnung der Parteilisten auf Landesebene. Dafür waren zwei Wahlgänge erforderlich.
Durch das Wahlgesetz vom 23. Dezember 2011 wurde ein neues Wahlverfahren geschaffen, das bei den Wahlen 2014 erstmals zur Anwendung kam. Erstes Element ist eine deutliche Verkleinerung des Parlaments, von 386 auf 199 Abgeordnete – das ließ sich mit Einsparungsargumenten begründen. Von diesen werden 106 direkt in den Wahlkreisen gewählt (statt 176), 93 über die Landeslisten (statt 210). Mit der kleineren Zahl der Direktwahlkreise war deren Vergrößerung und Neuzuschnitt verbunden. Eine politikwissenschaftliche Tiefenprüfung ergab bereits 2011, dass die Reform strukturelle Mehrheiten für Fidesz verfestigte: wäre bereits 2002 und 2006 nach den Bestimmungen dieses Gesetzes gewählt worden, hätte Fidesz auch jene Wahlen gewonnen – die acht Jahre „Unterbrechung“ durch sozialistische Regierungen hätte es nicht gegeben. Zugleich entfällt der zweite Wahlgang. Bürger mit Wohnsitz in Ungarn haben zwei Stimmen, eine für das Direktmandat und eine für die Landesliste. Der Wohnsitz in Ungarn war nicht mehr Voraussetzung, seit 2014 können auch Auslandsungarn an der Parlamentswahl teilnehmen.
Die stellvertretende Vorsitzende des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), meinte jetzt: „Orbáns erneuter Wahlsieg ist ein Armutszeugnis für die Europäische Union.“ Nun ist es seit langem ein Problem der EU, dass deren Institutionen ihre Kompetenzen weiter ausdehnen wollen. Da sie jedoch eine Vertragsänderung scheuen, aus Angst, sie nicht durchzubekommen, versuchen sie es mit wendiger Vertragsauslegung (siehe: Die EU und die Subordination, in: Das Blättchen No. 17 vom 16. August 2021). Die politische Auseinandersetzung zwischen der EU-Bürokratie und der nationalstaatlichen Verfasstheit der EU geht in eine neue Runde. Hier sind die Nationalisten, die in Ungarn und Polen regieren, derzeit ein Haupthindernis. Da es zwei Staaten sind, kann Brüssel bisher keinen exkommunizieren. Es kann verfahrenstechnisch immer nur ein Staat mit Strafen belegt werden, alle anderen müssen zustimmen; eine Ablehnung reicht, um dies zu verhindern. Die Stimmanteile Polens können nicht gestrichen werden, weil man dazu Ungarn bräuchte, und umgekehrt.
So waltete in Brüssel die Hoffnung, Orbán würde diese Wahlen gegen das breite Bündnis der anderen verlieren, dann könnte man auch Polen an die Kandare nehmen. Das ist am 3. April gescheitert. Nur macht die Bekundung von Frau Barley deutlich: die EU setzt sich über Wahlergebnisse hinweg, wenn das Volk anders abstimmt als gewünscht. Sollen die Ungarn so lange abstimmen bis Frau Barley das Ergebnis passt? Hier sollte das Demokratiedefizit der EU noch einmal neu diskutiert werden. Auch wenn man den Rechtsdrall von Orbáns Politik nicht mag, so muss die Entscheidung des Wahlvolkes akzeptiert werden. Seine Ablösung durch Winkelzüge von Brüsseler Politikern ist keine positive Alternative. Wenn erst einer von Brüssel aus suspendiert wurde, sitzen bald in allen EU-Hauptstädten nur noch Prokuratoren, wie einst in den Provinzen des Römischen Reiches.
Orbán hatte im Schluss-Spurt des Wahlkampfes – der russische Ukraine-Krieg hatte bereits begonnen – große Plakate mit seinem Konterfei aufhängen lassen und dem Aufruf: „Bewahren wir Ungarn den Frieden und die Sicherheit!“ Auch wenn Orbán sich mit Vorliebe auf den einstigen Reichsverweser der Zwischenkriegszeit, Miklós Horthy, beruft, so klingt diese Losung sehr nach János Kádár und seiner Außenpolitik in den 1980er Jahren. Und das dürften viele alte Ungarn auch so verstanden haben. Auch Orbáns Grundaussage: Wir haben nicht die Bevormundung durch Wien und Moskau abgeschüttelt, um jetzt die von Brüssel zu bekommen, dürfte von der Mehrheit der ungarischen Bevölkerung geteilt werden. Obwohl man die Mitgliedschaft in der EU als Ratifikation des „Zurück nach Europa“ ansieht, das seit Mitte der 1980er Jahre verkündet wurde.
Zur McCarthy-Ära in den USA Ende der 1940er/ Anfang der 1950er Jahre, als antikommunistische Verschwörungstheorie Staatspolitik war, gehörte, dass jede kritische Äußerung über die USA als Positionierung für „den Kommunismus“ galt. Zu den absurden Wahrnehmungen deutscher Medienleute heute gehört, Orbáns Wahlsieg – wie der des nationalistischen Präsidenten Aleksandar Vucic in Serbien – sei „Bestätigung“, „dass das Modell Putin in ihren Ländern funktioniert“. Seinen Wahlsieg kommentierte Orbán mit dem Satz: „Enorme internationale Kraftzentren haben sich gegen uns in Stellung gebracht, die internationale Linke, Brüssel, die internationalen Medien und der ukrainische Präsident“. Auch letzteres gilt im Westen als Nähe zu Putin. Das geht aber am Wesen der Sache vorbei. Der verschärfte nationalistische Kurs der Ukraine auch in der Sprachenfrage nach 2014 betraf nicht nur die Russen, sondern auch die ungarische Minderheit in der Karpato-Ukraine. Insofern hat der eine Nationalist eine Rechnung offen mit dem anderen Nationalisten.
So hatte Orbán darauf bestanden, keine Waffen über Ungarn in die Ukraine senden zu lassen. Die Welt-Autorin Caroline Drüten (Die Welt, 04.04.22) denunzierte, solch neutrale Position bedeute, sich „auf die Seite des Aggressors“ zu stellen. McCarthy lässt grüßen. Eine neutrale Position aber ist eine neutrale Position, nicht die an der Seite einer der kriegsführenden Mächte. Enttäuschend für mich war, dass Michael Maier, den ich als Journalisten bisher schätzte, bei Drüten abgeschrieben und dies in der Berliner Zeitung (05.04.22) als seine Position deponiert hatte.
Es gibt keinen internationalen „Systemkonflikt“ zwischen „Demokratie und Autoritarismus“, an dessen Spitze Putin und der Präsident Chinas, Xi Jinping stünden. Es gibt eigenständige Nationalismen in Ungarn, Polen, der Ukraine und anderswo einerseits und ein wiederum je eigenes Reichsverständnis in Russland und China andererseits. Die haben je eigene innenpolitische Gründe und historische Hintergründe und schließen sich oft gegenseitig aus.
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