25. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2022

Minerva kommentiert Katharinas Ruhm und Potemkins Dörfer

von Detlef Jena

Von den Neandertalern über die Skythen und Taurer bis zum klassischen Griechenland und den altrömischen Imperatoren, von den Tataren, Osmanen und Russen gar nicht zu sprechen: die Krim war zu jeder Zeit in der Menschheitsgeschichte ein höchst willkommenes Streitobjekt. Machtpolitiker jeglicher Couleur lechzten geradezu nach diesem offensichtlich multivalent nutzbaren Paradies. Von den Bergen des Jailagebirges hinab in die romantischen Wälder bis zu den Gestaden des Schwarzen Meeres! Ein wahres Elysium mit den Klängen der Fontäne von Bachtschissarai! Doch die Lust auf den paradiesischen Sehnsuchtsort schloss stets sehr irdische Begehrlichkeiten ein.

Wen wundert es, dass die in Europa gerühmte aufgeklärte Kaiserin Katharina II. von Russland, die der geschmeidige Weltgeist Voltaire „einen großen Mann“ nannte, der besonders gut geeignet sei, auch über den Balkan und Kleinasien zu herrschen, die Tradition der verblichenen Glücksucher fortsetzte? In einer historisch vielleicht etwas frühreifen Variante feministischer Außenpolitik ließ sie die Halbinsel 1783 durch ihren legendären Favoriten Fürst Potemkin von Taurien annektieren und mit russischem Adel neu besiedeln. Die tatarische Bevölkerung wurde ganz ohne romantische Avancen vertrieben.

Wenn die unvergleichliche „Märchenfigur“ Potemkin, wie Rudolf Augstein ihn in einem seiner letzten Artikel bezeichnet hat, der Kaiserin das entzückende Paradies ehrerbietig schmackhaft machte, schwebte auch ihm nicht so sehr das milde Klima einer üppigen Erholungslandschaft unter Zitronenbäumen vor. Der Besitz der begehrten Halbinsel verhieß ihm vielmehr die Herrschaft über das Schwarze Meer, bedrängte das Osmanische Reich und eröffnete den Zugang zur europäischen Welt des Mittelmeeres. Dafür lohnten sich umfangreiche Investitionen, ein langer Atem und die Bereitschaft, den Ambitionen der anderen europäischen Mächte rund um das Schwarze Meer auch mit Waffengewalt zu begegnen. Da galt es zunächst aus Petersburger Sicht, einige Probleme aus dem Weg zu räumen, ohne den Interessen der ukrainischen Bauern besondere Fürsorge angedeihen zu lassen.

Seit 1478 hatten die Khane der Krimtataren die Oberhoheit des Osmanischen Reichs anerkannt. Sowohl Zar Iwan der Schreckliche als auch Peter der Große rannten vergeblich gegen die türkischen Festungen am Nordufer des Schwarzen Meeres an. Erst 1774 – im Frieden von Kütschük-Kainardshi, der den ersten Türkenkrieg Katharinas II. abschloss, ging die türkische Ära auf der Krim zu Ende.

Das Krim-Khanat wurde offiziell selbständig. Auf die Hohe Pforte in Konstantinopel und auf die Regierungen in Paris und London wirkte es ausgesprochen provozierend, dass Russland gleichwohl sofort in die inneren Auseinandersetzungen auf der Krim eingriff. Im Oktober 1776 marschierten erste russische Truppen auf der Halbinsel ein. Sie erhoben den Petersburg genehmen Sahin Giray zum Krim-Khan. Empörte Aufstände folgten, die bis 1778 nicht nur blutig niedergeschlagen wurden, sondern bis an die Grenze eines neuen russisch-türkischen Krieges gingen.

Es ist mit Dokumenten belegt und keine Ausgeburt sattsam berüchtigter medialer „Kreml-Astrologie“: Katharina II. und Potemkin debattierten in heftigen Streitgesprächen und sogar im gemeinschaftlichen Nachtlager über die internationalen Konsequenzen des russischen Engagements auf der Krim. Potemkin suchte Katharina zu beruhigen: „Die Krim spaltet auf Grund ihrer Lage unsere Grenzen auf. Ob wir es mit den Türken am Flusse Bug zu tun haben oder am Kuban, immer ist die Krim da. Das erklärt, warum sie [die Türken – D.J.] den jetzigen Khan [Giray – D.J.] nicht leiden mögen, weil sie wissen, dass er ihnen den Durchmarsch durch die Krim nicht erlauben wird. Stellt Euch [Katharina II. – D.J.]nun einmal vor, dass die Krim Euch gehört und diese Warze an der Nase beseitigt ist, dann wird die Lage an den Grenzen mit einem Mal wunderbar […]. Straft die Missgunst anderer, die Euch nicht hindern können, mit Verachtung. Es ist Eure Pflicht, Russlands Ruhm noch höher steigen zu lassen. Seht Euch nur um, ob man denen, die etwas eroberten, den Besitz streitig gemacht hat: Frankreich hat Korsika besetzt, und die Caesarianer [Österreich – D.J.] haben ohne Krieg den Türken in der Moldau mehr genommen als wir. Es gibt keine Mächte in Europa, die nicht Asien, Afrika und Amerika untereinander aufgeteilt haben. Die Eroberung der Krim kann uns weder stärker noch reicher machen, aber sie wird unseren Frieden sichern.“

So also wurde Weltpolitik betrieben! Der letzte Satz Potemkins beruhigte das Gewissen Katharinas.

Da kann man nur an Goethe erinnern. Als der im Mai 1778 nach Berlin reiste, um am preußischen Hof zu erkunden, ob aus dem Bayrischen Erbfolgestreit ein neuer Krieg zwischen Preußen und Österreich erwachsen würde, schrieb er ahnungsvoll an Charlotte von Stein: „Und ich scheine dem Ziele dramatischen Wesens immer näher zu kommen, da michs nun immer näher angeht, wie die Grosen mit den Menschen, und die Götter mit den Grosen spielen.“ Er hatte leider Pech. Die Berliner Hofgesellschaft ließ ihn ahnungslos wie ein Kind in den Guckkasten blicken – was der große Goethe natürlich klug durchschaute. Dem legendären Baron Münchhausen ist es da in Petersburg bekanntlich nicht viel besser ergangen.

Katharina unterschrieb im Dezember 1782 eine „streng geheime“ Direktive, in der Potemkin den Befehl erhielt, die Krim bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit endgültig mit russischen Truppen zu besetzen.

Katharina und der türkische Sultan belauerten einander und wogen ihre jeweiligen Chancen bei einem neuen Waffengang sorgfältig ab: Die erste Teilung Polens von 1772 hatte Russlands Position in Europa gestärkte. Die Ereignisse um den Bayrischen Erbfolgestreit ab 1776 eröffneten die Möglichkeit, dass Russland, das mit Preußen verbündet war, in einen europäischen Konflikt hineingezogen werden konnte. Darin hätte der Sultan eine Chance sehen können, seinen Druck auf die Krim zu verstärken und den Frieden von Kütschük-Kainardshi zu seinen Gunsten zu revidieren.

Potemkin holte sich beim englischen Gesandten mit einer großzügigen Spende die Gewissheit: London werde sich einer russischen Expansion auf Kosten der Hohen Pforte nicht widersetzen! Doch wie würde sich der Kaiser in Wien verhalten? Katharina spekulierte darauf, wenn sie Joseph II. über ihre Pläne auf dem Laufenden hielte, könnte er nicht überrascht werden und auch keinen Widerstand leisten. Überdies gelang es den russischen Diplomaten, eine gemeinsame russisch-österreichische Front gegen das Osmanische Reich zu schmieden.

Auch waren Frankreich und England die Hände noch durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gebunden. Katharina instruierte Potemkin: Friedlich sollte die Annexion der Krim erfolgen, schnell und möglichst ohne Blutvergießen! Ehe Europa begriff, was da im Süden der zum Zarenreich gehörenden Ukraine vor sich ging, musste die Inbesitznahme der Krim erfolgt sein. Potemkin schuftete für dieses Ziel wie ein Pferd. Als die russische Schwarzmeerflotte erst einmal vor Sewastopol paradierte, konnten die westlichen Politiker nur noch zahnlos von den „Potemkinschen Dörfern“ schwafeln.

Dieses höhnische Wort ist als geflügelt in den weltweiten Wortschatz eingegangen und zielte ursprünglich darauf, dass Potemkin seiner Kaiserin bei deren Inspektionen in den Jahren 1787/88 als „Beweis“ für die Erfolge bei der russischen Kolonisierung der südlichen Ukraine Attrappen von Dörfern vorgeführt hätte. Selbst wenn man unterstellt, dass Potemkin von einem maßlos übersteigerten Selbstbewusstsein getrieben wurde, das keine Fehler zuließ, selbst wenn man die der autokratischen Herrschaft eigene Korruption und mangelnde Organisationsfähigkeit berücksichtigte, die Kolonisierung der gesamten südlichen Ukraine unter Einschluss der Krim diente der Vorbereitung des Kriegs gegen das Osmanische Reich und war gleichzeitig auf die Stärkung der Wirtschaftskraft Russlands orientiert. Scheingründungen waren da fehl am Platze. Städte wie Odessa, Cherson oder Mykolajiw konnten es bezeugen. Neusiedler aus dem Innern Russlands, Einwanderer aus den Balkanstaaten und ganz Europa errichteten dank günstiger Steuer- und Freiheitsrechte ein modernes Wirtschaftsgebiet – und den Raum für den Aufmarsch einer russischen Aggressionsarmee.

Das Wortspiel von den „Potemkinschen Dörfern“ entstammt dem Umfeld Kaiser Joseph II., der Katharina auf der Inspektionstour bis nach Sewastopol begleitete und als nüchterner Reformer die prunkvolle Show ablehnte. Zur Entourage Josephs gehörte der Diplomat und Schöngeist Charles Joseph Fürst de Ligne, der damals als liebenswürdigster Mann Europas galt. Ihm ist der Spott über Potemkin vor allem zuzutrauen. Die „Potemkinschen Dörfer“ gehören letztlich ganz einfach in den Bereich der politischen Falschmeldungen, die jeden Krieg begleiten.

Doch wie ist das  denunziatorische Spottwort verbreitet worden? Haben die Deutschen und besonders Preußen in dem Poker um die Ukraine und die Krim so gar keine Rolle gespielt? Doch: An der Legendenbildung besaß die zwischen 1792 und 1812 in Hamburg herausgegebene Zeitschrift Minerva maßgeblichen Anteil. Dieses Journal hat den Wortwitz überhaupt erst in die breite europäische Öffentlichkeit getragen.

Der Herausgeber Johann Wilhelm von Archenholtz hatte es verstanden, mit der Minerva eine in Deutschland und Europa besonders weit verbreitete politisch-historische Zeitschrift aufzubauen. Die Minerva behandelte brisante oder bemerkenswerte internationale Themen. In diesem Reigen veröffentlichte sie zwischen 1797 und 1801 in 34 Fortsetzungen die Serie „Potemkin. Der Taurier“. Archenholtz war eigentlich ein sachkundiger Verfechter objektiver Inhalte und Wahrheiten. Er handelte, wie man sich sogar heute noch einen modernen unabhängigen, weltoffenen und heimatverbundenen Journalismus vorstellt. Es ist leider nicht völlig exakt ermittelt worden, welcher Autor für die Serie wirklich verantwortlich zeichnete. Indizien sprechen mit angemessener Sicherheit dafür, dass Georg Adolf Wilhelm von Helbig die Artikel geschrieben hat. Helbig diente von 1782 bis 1796 als kurfürstlich sächsischer Resident in Petersburg.

Helbig entwarf ganz in dem mit immer wieder aufwallendem russophobem Gift belasteten Zeitgeist das Portrait eines russischen negativen Helden voller abstoßender Charaktermerkmale. Der Fürst sei „wollüstig“ gewesen. Unmäßige Verschwendungssucht habe ihn von Genuss zu Genuss getrieben. Eine solche Person musste auch in ihren politischen und staatsmännischen Handlungen verrucht sein und ausschließlich egoistischen Zwängen gehorchen. Die Einnahme der türkisch besetzten Festung Otschakow durch russische Truppen im Jahre 1788 wurde von Helbing als achtsam ausgewähltes Beispiel besonderer Grausamkeit, Feigheit und Unmenschlichkeit gefeiert. Die tatsächlich bekannt gewordenen barbarischen Handlungen russischer Soldaten gegen die Zivilbevölkerung erschienen in der Minerva nicht nur als das verabscheuungswürdige Werk Potemkinscher Blindwütigkeit, sondern auch charakteristisch für das Wesen der „russischen Seele“ und der kaiserlichen Staatsführung durch Katharina die Große.

Helbig vertrat die Ansicht, dass Potemkins übermächtiger Einfluss die gesamte russische Außenpolitik dirigiert habe. Die Orientpolitik Katharinas II. betrachtete er als das Werk des „Schattenregenten“ Potemkin. Dieser kolonisierte und beherrschte nicht nur die südliche Ukraine und die Krim. Er bereitete den zweiten Krieg gegen die Türkei vor und beeinflusste das politische Verhältnis zu Österreich, Polen und Schweden negativ. Das „Griechische Projekt“, die geistig-ideologische Plattform für die Orientpolitik Katharinas, wurde von Helbig als besonders eklatantes Beispiel für die Ruhmsucht der Kaiserin und für den Machtegoismus Potemkins betrachtet: „Es wurde nun, ohne weitere Umstände, zwischen der Monarchin und dem Fürsten beschlossen, die Europäische Türkey zu erobern, ein Plan, dem man es ansahe, dass er das Geschöpf zweyer Personen war, von denen die eine keine Vater­landsliebe haben konnte, und der andere die Kräfte des Staats weder kannte, noch sie zu schätzen wusste. Die Absichten, die beyde dabey hatten, waren wahrscheinlich folgende: Catharina sahe darin eine ungewöhnliche und mächtige Nahrung für ihren unbegränzten Ehrgeitz. Potemkin hingegen wollte sich dort ein unabhängiges Reich schaffen.“

Katharina II. und Potemkin figurierten hier als Initiatoren einer menschenfeindlich gescholtenen Expansionspolitik: „Die Menge des Menschenblutes, das dabey vergossen werden konnte, kam bei den Schöpfern dieses Plans gar nicht in Betrachtung. Doch Potemkin hatte den Geist nicht, große Projecte auszuführen. Er glaubte mit einer imponirenden Gewalt, bey deren Anwendung er aus Muthlosigkeit immer bequem hinter der Coulisse stehen konnte, alles auszurichten, und vernachlässigte dabei leichtere Mittel, die er mit glücklicherm Erfolg hätte nützen kön­nen. Millionen, die er zu Beförderung seiner Absichten hätte brauchen sollen, verschwendete er ohne Überlegung, stürzte Russland in eine drückende Schuldenlast, verursachte die finanzwidrige Vermehrung der Bankassignationen, schaffte dafür dem Reiche nichts als sehr entbehrliche Eroberungen, und erreichte seinen Zweck doch nicht.“ Mit anderen Worten: Potemkin trieb Russland in den Abgrund.

Warum aber ausgerechnet ein sächsischer Beamter zur Feder gegriffen haben soll, die damalige Misere zu beschreiben, bleibt sachlich betrachtet nebulös. Vielleicht wollte Helbig ja auch nur sein Wissen über die russischen Verhältnisse an die breite Öffentlichkeit bringen. Er bemächtigte sich eines zugkräftigen Sujets und hörte schon die Taler im prall gefüllten Beutel klirren. Es kann natürlich auch sein, dass er die politischen Geschäfte von hohen Persönlichkeiten besorgte, die selbst viel lieber diskret im Hintergrund blieben. Im Zeitalter des Absolutismus sind derartige Intrigen keineswegs ungewöhnlich gewesen. Und es kann nicht zuletzt sein, dass Helbig dem zeitlosen Zwang sächsischer Brüder und Schwestern gefolgt ist, tatsächliche Ereignisse und Gegebenheiten öffentlich und lautstark mit eigenwilligen Interpretationen zu kommentieren. Wir wissen es nicht und dürfen nicht spekulieren.

Helbigs Serie wurde 1808 in die französische und 1811/13 in die englische Sprache übersetzt. Die Legende Potemkin war geboren und man sage nicht, sie wurzele lediglich in der individuellen Psyche eines machthungrigen Günstlings und seiner liebestollen Kaiserin! Helbig hatte eine politische Biographie geschrieben, die den westeuropäischen Gegnern der russischen Orientpolitik in die Hände arbeiten konnte.

Die russische Orientpolitik durchlebte in den folgenden Jahrzehnten vielfältige Wandlungen. Aber die Potemkin-Legende lebte fort und fort, ohne sich in ihrer Grundtendenz jemals zu verändern. Noch in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erschien in Deutschland ein Buch unter dem Titel „Vom Hanswurst zum Ersten Mann im Staate. Lieben und Leben des Fürsten Potemkin“. Der Band kolportierte die Aussagen Helbigs, obwohl diese durch den englischen Historiker Robert Nisbett Bain längst als „völlig wertlos“ bezeichnet worden waren. Egal! Als Helbig seine Story über die blindwütigen Despoten Russlands veröffentlichte, überzog bereits ein neuer apokalyptischer Stern den Kontinent mit Feuer und Schwert: Napoleon Bonaparte. Der Usurpator drang bis in das Herz der russischen Seele vor, brachte zwar die die russischen Orientpläne ins Stocken, kehrte aber geschlagen zurück. In Wien wurden dann 1814/15 die Karten für Europa neu gemischt.