25. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2022

Kein Ausweg. Nirgends – Castorfs „Wallenstein“ am Staatsschauspiel Dresden

von Joachim Lange

Es gibt das Theater im Dienste der Autoren und es gibt Theater, bei dem die vorliegenden Texte von ihren Interpreten vor allem auf Relevanz für die Gegenwart hin überprüft werden. Es gibt ein Theater, das Pathos ausstellt. Und eins, das verfremdet und alles Mögliche vorführt. Neuerdings gibt’s auch ein Dramaturginnentheater mit großem Binnen-I, das am liebsten das ganze Patriarchat rückwärts wegkorrigieren würde, dann aber wegen matriarchalischer Auswüchse womöglich bald eine Rückübersetzung provozierte. Es gibt also wer weiß wie viele Spielarten von Theater, sogar eins der Grausamkeiten.

Und es gibt das Theater von Frank Castorf. In jedem Fall ein Theater der Zumutungen; allemal aber eine Theater-Zumutung. Mit einer treuen Gemeinde, die zumindest den Premieren Akklamation sichert. Selbst in Dresden lässt man sich da sieben (!) Stunden mit nur einer Halbstundenpause, samt wirklich lausiger (Fast-nicht-)Versorgung, gefallen. Ergreift nicht (wie in Wien zum Beispiel bei den dortigen Festwochen schon erlebt) in der Pause oder zwischendrin die Flucht. Und akzeptiert, dass für nach der Vorstellung, die, als man schon alle Hoffnung fahren gelassen hatte, eine Stunde nach Mitternacht doch noch ihr Ende fand, niemand auf die Idee gekommen war, für bereitstehende Taxis zu sorgen.

Nun ist Frank Castorf also im Staatsschauspiel in Dresden angekommen. Trotz aller Castorf-Unvermeidlichkeiten und Dresden-Umrahmung mit einer Vorlage, deren Reiz man nicht widerstehen konnte. „Wallenstein“ stand schlicht und einfach oben drüber. Und viel von Friedrich Schiller war tatsächlich auch drin. Bei diesem Klassiker-Flaggschiff dürfen sogar (noch) Vorkenntnisse vorausgesetzt werden. Zumindest bei den gelegentlich belächelten älteren Semestern. Die freuten sich denn auch, wenn mal eins der geflügelten Worte durch den Raum flatterte, vollendeten im Stillen das eine oder andere. Manchmal versieht Castorf (oder vielleicht auch die Improvisationslust oder der Übermut der an der langen Leine longierten Schauspieler) so eine Zitatenperle mit einem schmunzelnden Augenzwinkern. Bei „Dem Mimen flicht die Nachwelt …“ kann kein solcher Mime den von ihm vorgeführten Hänger wirklich haben. Das muss ein Witz sein. Die echten Hänger kommen später. Wobei dem Titelhelden (dem prominentesten von drei, zum fabelhaften, über sich hinauswachsenden Hausensemble dazu engagierten Gästen) Götz Schubert, die seinen kaum jemand übelnahm. Man freute sich mit ihm übers pure Durchhalten. Souffleuse Angelika Bosse hätte allerdings beim Schlussapplaus auf jeden Fall mit in die erste Reihe gehört! So oft wie sie zu hören war.

Aleksandar Denić – aus Erfahrung mit Erwartungsvorfreude bedachtes – aktuelles Drehbühnenkonstrukt ist diesmal von einem großen, gelben Vorhang mit Doppeladler verdeckt. Rechts ein rotes Feldherrenzelt. Die erfüllte Vorfreude gilt nicht minder für die von Adriana Braga Peretzki entfesselte Kostümopulenz.

Zur Methode Castorf gehört schließlich der rund fünf mal fünf Meter große Bildschirm für die live gedrehten Szenen von hinten und aus der Tiefe des Raumes. Dort findet sich auch ein Klavier für Chanson-Einlagen von Daniel Séjourné (sonst vor allem der Wiener Abgesandte Questenberg), der sich in so lustbetontem Französisch an Thekla (Kriemhild Hamann) heranmacht, dass Max (Marin Blülle) wie gelähmt zusieht und erst von den anderen zum Eingreifen gedrängt werden muss.

Poetische Abwege gehören bei Castorf eben zum guten, oft lauten Ton. Wie auch die Ausflüge in den infantilen Selbsterfahrungskindergarten fürs außer Rand und Band geratene Bühnenpersonal. Hinter dem Vorhang dann finden sich ästhetische Avancen an Wallensteins Sternengläubigkeit, deren Konsequenz zu seinem Fall beiträgt: darunter ein sternenverziertes Kulissenfirmament mit gemalter Landschaft. An diesem Firmament stößt sich die aufgedreht stöckelnde Nadja Stübiger als Astrologe Seni als Running Gag immer wieder den Kopf. So ist das eben mit einem behaupteten Weltbild. In ihrer anderen Rolle als Wallensteins Frau wird der erotisch aufgeladene Dialog mit ihm zumeist akrobatisch handfest.

Im zweiten Teil des Abends sind es die Nahaufnahmen der Männer. Besonders Moritz Kienemann als Buttler und Jannik Hinsch als Illo stemmen sich mit ihrem mimischen Nahaufnahme-Furor immer wieder gegen den Spannungsabfall nach der Pause.

Die mittlerweile in die Perfektion getriebenen live gefilmten und vergrößerten Nahaufnahmen (Andreas Deinert, Julius Günzel und Eckart Reichl haben es drauf!) kommen auch aus dem fürstlichen Schlafzimmer, zeigen den flackernden Kamin. Sie verraten sich nur einmal als technisches Vehikel, als das Bild für Sekunden ausfällt. Gekrönt ist dieses Himmels- und Feldherrenzelt mit Standarten der Völkerschaften, die im Krieg in Wallensteins Heer zusammenkamen. Vermutlich jedenfalls.

Dass es um ein Stück mitten im bis dato verheerendsten Krieg in Europa geht, wird gleich zu Beginn klar: Mit einem Aufmarsch splitternackter, blutverschmierter, mit Wunden übersäter und beim Sprechen hinter Gesichtsmasken (hat nichts mit der Pandemie, mehr mit dem Verweis auf den Ursprung des Theaters zu tun) verborgener Kriegsopfer. Was man nur in Schnipseln aufschnappt, stammt aus dem Schillerschen Prolog. Aber bald geht es  um die Polen und die Deutschen, und die Deutschen in Polen. Hans Frank, Hitlers Statthalter und Schlächter im sogenannten Generalgouvernement, mit Sitz in Krakau, wird als König von Polen imaginiert, der von seinen Opfern auch noch geliebt werden wollte. Und von der deutschen Eroberung der Ukraine ist die Rede, was heute noch beklemmender wirkt als sowieso schon.

Etwas von der Macht der Kunst kommt auf, wenn die Feldherren mit Spielzeugpanzern anrollen (spät kommt ihr – doch ihr kommt), darauf herumturnen, einer ausgetauscht werden muss und man plötzlich über die Ausrüstungsmalaise der Bundeswehr lachen muss und über die flapsige Frage, ob die aus NVA-Beständen stammen und man sie nicht weitergeben sollte.  Denn plötzlich ist man mitten im aktuellen Kriegswahnsinn gelandet.

Als die Castorfsche Assoziationswelle schon rollt, kommt dann auch Wallenstein persönlich ins Spiel. In Großaufnahme und mit Schillers Zunge. Und wenn der ins Spiel kommt, wird es immer spannend. Als Goethes Wallenstein-Zusammenfassung „Maskenzug in Weimar von 1818“ zitiert wird, dann nimmt man dem großartig, meistens sich selbst und oft auch (wenn es sein muss, hoch zu Ross und mit Tütü) den Octavio Piccolomini spielenden Torsten Ranft sogar ab, wenn er das Porträt des anderen Klassikers in der Hand hält und fragt, wer das denn sei.

Was man in diesem energiegeladenen Wechsel von Texttreue und Ausbrüchen ins Assoziieren oder ins Rumalbern mitbekommt, ist viel vom inneren Ringen Wallensteins, vom Ehrgeiz seiner Generäle bis hin zur Intrige, von der naiven Gläubigkeit von Max Piccolomini und vor allem vom Wahnsinn des Krieges.

Der Abend findet gerade im ersten Teil mit allen Ab- und Umwegen seinen eigenen Rhythmus, ist Castorf at his best sozusagen. Dazu gehören wohldosierte (auch das ist möglich!) Filmbilder von erfrorenen Pferden im Ladogasee aus der Zeit der Belagerung von Leningrad.

Dazu gehört auch die Musik (William Minke), die mit Wagners Walkürenritt oder Laibach vehement dazwischengrätscht, meist aber mit Bedacht den Sound der Worte aufgreift und deren Wirkung verstärkt. Hier kann der Regisseur des Maßlosen von sich selbst als Opernregisseur unter dem Regiment von Partituren profitieren. Nicht was den Umfang seiner Performance anbetrifft, aber beim Inhalt gelingt ihm das mit Gewinn.

Im zweiten Teil dominiert jedoch letztlich die Zügellosigkeit des Gurus, der kann, was er macht, und erst aufhört, wenn alle nicht mehr können. Seine Getreuen im Saal folgten allerdings selbst noch der Schlussnummer mit dem deklamierenden Statement mexikanischer Zapatistas an der Rampe …