25. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2022

Einsamkeit als Massenphänomen

von Ulrich Busch

Nicht erst seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie wird unter Soziologen, Philosophen, Ethnologen, Ökonomen, Psychologen, Medizinern, Literaten und Politikern über Einsamkeit diskutiert. Gleichwohl rückte dieses Thema durch die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit und erhielt die Debatte hierüber zuletzt eine deutlich größere und aktuelle Relevanz. Es ist daher zu begrüßen, dass sich das seit 1990 in Berlin erscheinende sozial- und geisteswissenschaftliche Journal Berliner Debatte Initial dieser Problemstellung angenommen und seine aktuelle Ausgabe dem Themenschwerpunkt „Einsamkeit. Geschichte sozialer Nichtbeziehungen“ gewidmet hat.

Der Schwerpunkt umfasst zehn Einzelbeiträge unterschiedlicher Ausrichtung. Ist Einsamkeit ein Phänomen unserer Zeit, ein Merkmal unserer Produktions- und Lebensweise, ein Kennzeichen moderner Zivilisation und Kultur? Oder handelt es sich dabei eher um eine allgemeine Erscheinung menschlicher Existenz? Was unterscheidet die Einsamkeit vom Alleinsein? Oder sind dies nur unterschiedliche Begriffe für ein und denselben Tatbestand? Besitzt das Einsamkeitsgefühl eine historische Dimension, eine bestimmte wirtschafts-, sozial-, geistes- und kulturgeschichtliche Prägung und Verortung? Oder gibt es Einsamkeit in allen Gesellschaften, Kulturen und Ethnien? – Das sind Fragen, die in diesem Kontext diskutiert werden.

Ferner geht es in dem Themenheft darum, zu klären, ob dem Einsamkeitsgefühl ein Anstrich von Normalität oder eher ein pathologischer Charakter beizumessen ist. Denn es gibt heute nicht wenige Publikationen, in denen Einsamkeit faktisch als „Epidemie“ behandelt wird und unsere Zeit als „Lonely Century“. Auch ist die Rede von einer „neuen Einsamkeit“ und von deren abnormem Charakter als „unerkannter Krankheit“. Letztere Charakterisierung ist sicherlich strittig. Trotzdem stellt die Einsamkeit von einer bestimmten Stufe an ein gesellschaftsrelevantes Problem dar, ist sie eine individuelle wie soziale Herausforderung, ja, ein Politikum. Und das nicht erst seit Kurzem, sondern bereits seit Jahrhunderten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität und kultureller Ausprägung.

Spätestens, seitdem die Menschen ihren Glauben an Gott, ihre Religiosität, verloren haben und seitdem mit der Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft die traditionellen Formen von Gemeinschaftlichkeit erodiert sind, ist die Einsamkeit zu einem allgemein verbreiteten Gefühl geworden. Als eine durch Arbeitsteilung, Privateigentum, soziale Spaltung und Entfremdung begründete „Nichtbeziehung zu anderen“ wurde sie zu einer wichtigen sozialwissenschaftlichen Kategorie, welche Aufschluss über Gesellschaftsstrukturen, Produktionsverhältnisse, Menschenbilder und politische Ordnungen gibt. Ihre öffentliche Wahrnehmung und politische Behandlung wurde daher gleichermaßen zu einem „Spiegel“ ökonomischer, sozialer und kultureller Verhältnisse.

Heute – wie auch schon früher – wird durch die Betrachtung von Einsamkeit die Verfasstheit einer Gesellschaft als Ganzes, ihre ökonomische und soziale Struktur wie ihre geistige und kulturelle Prägung, in den Blick genommen und gefragt, wodurch Einsamkeit gefördert wird und wodurch sie überwunden werden kann. Dabei wird deutlich, dass Einsamkeit in einen dezidiert politischen Diskurs eingebunden ist. Sie ist ein verbreitetes psychosoziales Phänomen – wofür es individuelle wie gesellschaftliche Determinanten gibt –, das im Zeitverlauf einem spürbaren Bedeutungswandel unterliegt.

Seit Beginn der Neuzeit, verstärkt aber seit dem 18. Jahrhundert, wird das Allein- und Einzeln-Sein subjektiv als ein Gefühl der Verlassenheit (von Gott) und des Verlustes (sozialer Bindungen) empfunden – als Einsamkeit. Aus der Koinzidenz dieses Empfindens mit der bürgerlich-kapitalistischen Transformation leitet sich als Fragestellung ab: Was sind die sozio-ökonomischen und geistig-kulturellen Grundlagen dafür, dass in der modernen Welt Alleinsein häufig als Einsamkeit erscheint? Und wie lässt es sich erklären, dass dieses Einsamkeitsgefühl überwiegend negativ, als Bedrohung, mitunter aber auch positiv, als Chance zur Selbstbehauptung, empfunden wird? Bei der Beantwortung dieser Fragen spielen neben der Individuation und Individualisierung Prozesse der Säkularisierung, Entfremdung und Isolation sowie Innerlichkeit und Empfindsamkeit eine Rolle. Als Grundlage dafür aber auch Prozesse wie Arbeitsteilung, Kooperation und Industrialisierung.

Eine besondere Form von Einsamkeit hängt offenbar mit dem Alter zusammen. „Einsame Tode in Japan“ – so der Titel eines der Aufsätze in diesem Heft. Ein anderer Text beschäftigt sich mit der „Einsamkeitsangst“ in modernen Gesellschaften. Ein weiterer mit dem Verhältnis von Einsamkeit und Freiheit.

Die Lektüre dieser Essays lässt erkennen, dass das Schreiben einer allgemeingültigen „Geschichte der Einsamkeit“ noch ganz am Anfang steht. Entsprechend disparat sind die hier vereinigten Perspektiven auf dieses Thema. Einige Texte verbindet dabei der Anspruch, bestehende Vorannahmen vergangener Erscheinungsformen von Einsamkeit bewusst infrage zu stellen. Dies betrifft, wie die Herausgeber im Editorial betonen, vor allem „Vorannahmen, die aktuelle Debatten über ein vermeintlich präzedenzloses Problem bestimmen, aber auch die Basis für historische Forschung bilden“. Demgegenüber wird hier untersucht, inwiefern die Einsamkeit in der gegenwärtigen Situation eine „neue Qualität“ gewinnt und ob Menschen sich heute insgesamt einsamer fühlen als früher und ob bestimmte soziale Gruppen davon stärker betroffen sind als andere. Einen interessanten Aspekt bildet auch die Frage, inwiefern Einsamkeit unter den Bedingungen von heute von der physischen Abwesenheit anderer Menschen bestimmt wird und welche Rolle digitale Medien und deren Nutzung für die Überwindung von Einsamkeit spielen können.

Ein insgesamt sehr lesenswertes Heft mit vielen neuen Einblicken und durchaus ungewöhnlichen Einsichten!

Berliner Debatte Initial, 33. Jg., Heft 1 (2022), 165 Seiten, 15,00 Euro.

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