Aleksander Kwaśniewski war von 1995 bis 2005 Polens Staatspräsident. Er hatte wesentlichen Anteil am 1999 erfolgten Beitritt des Landes zur Nato und schließlich an der EU-Mitgliedschaft, die am 1. Mai 2004 begann. Zu diesem Anlass ließ er sich damals landauf, landab werbesicher plakatieren – Ich bin Europäer! Viele in Polen gehen bis heute sogar weiter, sehen in ihm einen der entscheidenden Architekten der erfolgten Westbindung Polens. Andererseits gehört er zu der immer kleiner werdenden Schar von Spitzenpolitikern, die ihren Berufsweg bereits in den Zeiten begonnen haben, als infolge des Zweiten Weltkriegs die besondere Bindung an Moskau das entscheidende Gewicht besessen hatte. Er ist im politischen Sinn durchaus ein Kind geblieben jener aufregenden Zeit, in der Männer wie Gorbatschow, Jaruzelski oder Rakowski darum rangen, den Beziehungen zwischen Warschau und Moskau einen ganz anderen Zuschnitt und eine völlig neue Ausrichtung zu geben. Die Angst jedenfalls vor einem gewaltsamen Eingreifen des Kremls in die inneren Angelegenheiten des Nachbarn schien damals ein für alle Mal gebannt.
Nach dem Ende seiner Amtszeit blieb er im politischen Leben aktiv, mal mit mehr, häufig auch mit weniger Erfolg. Doch der auffallende Zug über die Grenze am Bug hinüber und weiter nach Osten, in die Länder der ehemaligen Sowjetunion, war nicht zu übersehen. Insbesondere die Ukraine und Kasachstan waren oftmals das Ziel solcher Reisen, Kwaśniewski blieb in all den Jahren mit den laufenden Dingen dort vertraut. Klar verurteilte er das Vorgehen Moskaus gegen Georgien 2008 und gegen die Ukraine auf der Krim 2014. Allerdings wusste er zu gut, welche enorme Bedeutung den guten oder zumindest gedeihlichen Beziehungen zu Moskau, also zu Putins Russland zukommt. 2005 ließ er sich – noch als amtierendes Staatsoberhaupt – nicht ausreden, zu den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges über den Faschismus am 9. Mai nach Moskau zu fahren, obwohl der Druck der Opposition in Polen ziemlich heftig war und Amtskollegen aus Estland oder Litauen demonstrativ darauf verzichtet hatten.
Mit Wladimir Putin ist er nur vereinzelt zusammengetroffen, überhaupt folgte auch Kwaśniewski eher der Linie, wie sie für Polens Ostpolitik entscheidend ist: Der Blick nach Moskau hat immer das besondere Verhältnis mit Kiew im wachsamen Auge. Oder anders gesagt: Während für die deutsche Ostpolitik traditionell Moskau das entscheidende Gewicht liefert, ist es für Warschau eben Kiew. Hierin machte und macht Kwaśniewski keine Ausnahme.
Den von Putin am 24. Februar 2022 vom Zaun gebrochene Krieg hatte Kwaśniewski eigentlich gar nicht mehr erwartet, wiewohl er die auf russischer Seite aufgefahrene Drohkulisse frühzeitig sehr ernst genommen hatte. Ihm schien zunächst, dass es Emanuel Macron und Olaf Scholz in letzter Sekunde doch noch gelungen sei, den Kremlherrscher von der verstiegenen Idee einer offenen Gewaltanwendung gegen das Nachbarland abzubringen. Außerdem hätte Putin, so Kwaśniewski, aus verlässlichen Quellen vorher erfahren können, welch komplizierter und riskanter Waffengang ihn dort erwartet. Auch die scharfen Reaktionen des Westens hätten niemanden im Kreml überraschen dürfen. Für Kwaśniewski hat schließlich der von seiner historischen Mission beseelte Kremlherr über den nüchternen Staatslenker gesiegt – und losgeschlagen.
„Putin hat sich von der Wirklichkeit losgerissen, will in die Geschichte eingehen als derjenige, der die verspielte Reichsausdehnung Russlands wiederhergestellt hat“, so Polens Ex-Staatspräsident nun pessimistisch gegenüber der Presse. „Nichts verweist darauf, dass er seine Haltung aufgeben wird. Sein Ruf im Westen kann ihm eigentlich egal sein, in Putins Umgebung ist niemand auszumachen, der ihn stürzen könnte.“ Viele hätten nach Kriegsausbruch darauf gehofft, dass Putin mit erhobenem Haupt doch noch schnell aus der sinnlosen Schlacht herauskommen wolle, dass er von den haltlosen Behauptungen, den Überfall zu begründen, ablassen und die Karten auf den Tisch legen werde. Kwaśniewski besorgt: „Von Putin erwarte ich das Schlimmste. Er nimmt die brutalen Raketenangriffe auf Kiew weiterhin in Kauf, will sein Ziel unbedingt erreichen. Straßenkämpfe, das weiß er, werden die Russen nicht gewinnen.“ Putin wolle die Unterwerfung der Ukraine, egal, unter welchen Bedingungen und wie am Ende territorial zugeschnitten. Der sei zudem fest überzeugt, die Zeit spiele für ihn.
Im Grunde ist das Kind nun in den Brunnen gefallen, denn es wird sehr schwer sein, Putins Russland zur Aufgabe oder gar zu einem Rückzug auf die Ausgangsposition vom 23. Februar 2022 zu bewegen, es an den harten Verhandlungstisch zu zwingen. Putins altes Konzept, die Ukraine zu „föderalisieren“, also in einzelne, weitgehend voneinander losgelöste Teile zu zerlegen, denen gegenüber die Kiewer Zentralregierung mit den arg zurückgestutzten Kompetenzen nur noch wie nachträglich aufgesetzt wirkt, wird wohl bald auf den Tisch gelegt werden. Wie andere auch, so macht Kwaśniewski in diesen Tagen einen ratlosen Eindruck. Hatte er bei früheren Gelegenheiten immer ein wenig besänftigend gelächelt, wenn die Rede auf Putins verrückt klingende Reichsvision kam, so ist er nun der Überraschte. Da zieht jemand mit Kriegsgewalt durch, so als wolle der endlich aller Welt beweisen, wie ernst es ihm tatsächlich sei. Die stille Hoffnung, dass es anders komme, speist sich einstweilen vor allem aus dem enormen Widerstandsgeist der ukrainischen Seite.
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