25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Worte als Waffen

von Bernhard Romeike

Bei Wolf Biermann weiß man schon seit Jahrzehnten nicht, ob er mit seinen oft schrägen Positionierungen provozieren will, um ein Thema hochzupeitschen, oder um die staunende Mitwelt mal wieder an seine Existenz zu erinnern. Doch das dankbare deutsche Volk weiß, dass es den Wahnsinn des Mauerfalls nicht nur Helmut Kohl und David Hasselhoff zu verdanken hat, sondern auch dem geräuschvollen Übertritt Biermanns in die BRD. Nun hat er einen Appell initiiert gegen „Putins Aggression“, der am 4. Februar in Berlin veröffentlicht wurde und rasch durch die Medien ging. Zu den Mitunterzeichnern gehören Litraturnobelpreisträger Herta Müller, Swetlana Alexijewitsch und Wole Soyinka sowie Ai Weiwei, die frühere Stasi-Unterlagen-Beauftragte Marianne Birthler und das CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble. Insgesamt „mehr als 350 teils prominente Unterzeichner“, wie das ZDF verlautete.

Die Süddeutsche Zeitung publizierte am 8. Februar ein Gegenpapier des Schriftstellers und studierten Mathematikers Eugen Ruge unter der Überschrift: „Du, lass dich nicht verhärten“. Ob er von Biermann ebenfalls um eine Unterschrift angegangen worden war, ist aus dem Text nicht ersichtlich. Der Untertitel lautet: „Künstler für Abrüstung? Das war einmal. Im Konflikt mit Russland setzt der Kulturbetrieb auf Waffen.“ Ruge erinnert daran, dass Biermann sich schon im Golfkrieg 1991 für den Krieg der USA aussprach. Im Kosovo-Krieg vergrößerte sich die Zahl der „Kriegsbefürworter aus dem Reich der Musen“, heute „ein mächtiger Chor“, der nicht Abrüstung und Deeskalation fordert, „sondern eine härtere Gangart gegenüber dem Gegner“. Besonders erstaunlich findet Ruge, „dass die verantwortlichen Politiker im Vergleich zu diesem Chor der Entschlossenen beinahe zögerlich und besonnen wirken“. Den kommenden großen Krieg sieht er „wahrscheinlich nicht aus der Absicht der militärischen Großmächte entstehen, sondern aus einer sich gegenseitig verstärkenden Eskalation“.

Schließlich sieht Ruge, wie inzwischen etliche aufmerksame Beobachter, Ähnlichkeiten mit dem Jahr 1914. Das betreffe auch die rhetorische und psychologische Mobilisierung. Deshalb ist der „Chor der Willigen aus dem Kulturbetrieb ein beunruhigendes Signal“. Auch 1914 „schien die kultivierte Öffentlichkeit plötzlich mit einer Stimme zu sprechen“, und zwar ganz „ohne die später von den Nazis erzwungene Gleichschaltung“. 93 „Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur“ – so der Originalton von damals – hatten im Oktober 1914 ein Manifest veröffentlicht, in dem sie erklärten: „Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn (den ersten Weltkrieg) abzuwenden.“ Mit Blick auf Russland hieß es: „Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde.“ Die Kontinuität über Goebbels und Adenauer bis heute ist unverkennbar.

Während 1914 die Kriegsfreiwilligen frohlockten, endlich in den Krieg zu ziehen, in Kürze Paris zu erobern und Weihnachten wieder zu Hause zu sein, ist eine Kriegsstimmung der Bevölkerung heute trotz wochenlangen propagandistischen Trommelfeuers nicht erreicht. Anfang Februar haben gemäß einer für das sogenannte RedaktionsNetzwerk Deutschland durchgeführten Meinungsumfrage 53 Prozent der Befragten Angst davor, dass es wegen des Russland-Ukraine-Konflikts zu einem Krieg kommen könnte, Angst vor Russland haben aber nur 20 Prozent, in Ostdeutschland 12 Prozent der Befragten. 90 Prozent halten gute Beziehungen zu Russland für wichtig. Nach einer anderen Umfrage (de.statista.com vom 4. Februar 2022) halten 51 Prozent Sicherheitsgarantien für Russland für richtig, 28 Prozent sind dagegen. 71 Prozent lehnen Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Damit befindet sich die Bundesregierung mit ihrer Zurückhaltung in völliger Übereinstimmung mit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung.

Das passt den Transatlantikern und den anti-russischen Bellizisten aber nach wie vor nicht in den Kram. Die Moderatorin Anne Will machte am 6. Februar ihre Fernsehdebatte zum Thema: „Worte oder Waffen – wo steht Deutschland im Ukraine-Konflikt?“ Diskutanten waren die US-amerikanische Journalistin Anne Applebaum, die mit dem früheren polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet ist, der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij J. Melnyk, sowie Kevin Kühnert (SPD), Jürgen Trittin (Grüne) und Dietmar Bartsch (Linke). Zugeschaltet war zeitweise die Journalistin Ina Ruck von der ARD, die in der Regel keine Gelegenheit auslässt, Russland an den Pranger zu stellen. Die drei deutschen Politiker plädierten im Grunde alle für Entspannung und Abwiegelung, ungeachtet US-amerikanischer Aufwallungen. Applebaum bezog eindeutig die Kriegsposition, forderte Waffen für die Ukraine und unterstellte, Deutschland sei bereit, Russland in der Ukraine einmarschieren zu lassen. Das ist zwar eine Lüge, die aber blieb im Raum stehen. Ihr gegenüber waren die drei deutschen Politiker eher zurückhaltend, ob wegen eines Frauenbonus’, weil sie Amerikanerin ist oder weil sie nicht richtig zugehört hatten, war nicht ersichtlich.

Interessant war es, die Diskussionsbeiträge auf der Webseite von Will vor der Sendung anzuschauen. So schrieb ein Herbert Longen: „Im Juni 2016 sagte unser jetziger Bundespräsident Steinmeier: ‚Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen.‘ Grund war die Nato-Übung ‚Anakonda2016‘ mit 31.000 Soldaten aus 24 Nato-Staaten in Polen. Die Drohgebärden wurden trotzdem fortgesetzt und dauern bis heute an. Einziger Unterschied: In den Medien Deutschlandfunk, ARD, ZDF und den meisten Zeitungen wird darüber nicht oder nur beiläufig berichtet. Heute sind die Ostsee, das Baltikum, und der gesamte Grenzverlauf bis zum Schwarzmeer regelmäßig ‚beübt‘.“ Erich W. meinte: „Ich kann gut verstehen, dass die Russen nicht wollen, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird, denn dann befände sich die NATO-Außengrenze nur noch 500 Kilometer vom Moskauer Kreml entfernt, so weit wie Dortmund von Berlin. Ein bisschen zu nah für russische Verhältnisse.“ Ein Montgomery schrieb: „Den meisten Deutschen ist gar nicht bewusst, dass ein Krieg in der Ukraine schlechtenfalls sich zu einem 3. Weltkrieg hochschaukeln kann. Das checkt kaum jemand der jetzigen Generationen – auch in der Politik nicht. Deutschland wäre davon sehr stark betroffen. Deshalb ist es in der Gästeliste unerlässlich, einen Vertreter der russischen Sichtweise einzuladen. Menschenrechte hin oder her.“ Der war nicht eingeladen. Ein Beiträger, der sich „Eine Welt“ nennt, schrieb: „Die derzeitige Situation ist ein Trauerspiel. Nach zwei Weltkriegen hat man entweder nicht genug am Krieg, oder genug am Frieden. Offenbar hat man vergessen, dass Krieg auf beiden Seiten Leid & Elend bedeuten. Wo gab es in den letzten Tagen einen Aufruf, dass es nie wieder Krieg geben darf? Stattdessen wird bereits angefangen, genussvoll die mögliche Anzahl von Streitwagen & möglichen Opfern zu zählen. Das ist einfach widerlich, menschen- und zivilisationsverachtend.“ Egon Gutmann zitierte schlicht und ergreifend Artikel 10 des NATO-Vertrages: „Die Parteien können durch einstimmigen Beschluss jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen, zum Beitritt einladen. Jeder so eingeladene Staat kann durch Hinterlegung seiner Beitrittsurkunde bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika Mitglied dieses Vertrags werden.“ Und fügte hinzu: „Die Ukraine trägt zur Unsicherheit und zur Kriegsgefahr in Europa bei.“ Damit ist im Grunde alles gesagt. Das Problem ist nicht, ob die Ukraine einen Antrag stellen darf, sondern ob alle NATO-Staaten dem trotz aller Widrigkeiten zustimmen. Die Kommentarrubrik zeigt: Die Bevölkerung dieses Landes ist klüger, als die Medienklasse und die „Willigen aus dem Kulturbetrieb“.

Der ukrainische Botschafter Melnyk erklärte in der Diskussion bei Anne Will, die Ukraine habe nicht das Gefühl, dass man sich auf Deutschland verlassen könne. Die deutschen „Berater“ im ukrainischen Verteidigungsministerium wüssten, welche Waffen die Ukraine brauche. Er hoffe „auf ein Umdenken in der deutschen Politik“. Bereits im Zusammenhang mit den Aussagen des deutschen Vize-Admirals Schönbach in Indien im Januar hatte Melnyk betont, die internationale Glaubwürdigkeit Deutschlands sei massiv infrage gestellt. Die Ukraine sei enttäuscht, weil sich Deutschland anhaltend weigere, Waffen in die Ukraine zu liefern. Nun, es ist nicht Aufgabe eines Botschafters, die Politik in seinem Stationierungsland zu verändern.