Bleichröder war in der Politik
des Kaiserreiches ständig überall präsent.
Fritz Stern
Nach ihrem Ableben fallen Menschen binnen weniger Generationen dem allgemeinen Vergessen anheim. Das ist gängiges Schicksal. Auf ein Davonausgenommenwerden hoffen dürfen nur jene, die zu ihren Lebzeiten ganz Außerordentliches entweder geleistet oder angerichtet haben – es sei denn, die nachfolgende Geschichtsschreibung und -aufarbeitung ignoriert sie konsequent, also ebenso vorsätzlich wie zielgerichtet – und tilgt sie so aus dem öffentlichen Erinnern. Einer, dem Letzteres besonders gründlich widerfahren ist, war der jüdische Bankier Gerson Bleichröder (1822–1893), ab 1872 von Bleichröder. Beginnend 1859 avancierte Bleichröder ziemlich rasch zum jahrzehntelangen Geldbeschaffer, Vermögensverwalter, intimen Vertrauten und zugleich zu einem der engsten Mitarbeiter in strategischen Staats- wie operativen Regierungs- und immer auch ganz privater Angelegenheiten des Reichsgründers Otto von Bismarck und unter den wenigen Juden, die in Preußen wie im späteren Deutschen Reich überhaupt je nobilitiert wurden, zum ersten, der nicht zuvor zum Christentum konvertiert war. Fritz Stern: „eine Sensation“. Und dieser Bankier war zugleich ein international hoch anerkannter Akteur, bei Herrschenden in Frankreich und England ebenso wie in Russland. 1872 ernannte ihn London zum Generalkonsul in Berlin. Bleichröders Name, so Stern zusammenfassend, „war für seine Zeitgenossen ein geläufiger Begriff, der einen Beiklang von enormem Reichtum, Macht und geheimnisvollem Einfluß hatte“.
Als Fritz Sterns Monumentalwerk über Bismarck und seinen Bankier 1977 bei Alfred A. Knopf, New York, erschien, waren zum Eisernen Kanzler bereits mehr als 7000 Werke publiziert worden, über Bleichröder hingegen kein einziges.
Den Grundstein zum Vergessen des Bankiers hatte dabei Bismarck höchstselbst gelegt: „[…] nach dreißig Jahren der Zusammenarbeit, nach zahllosen Gesprächen und einem umfangreichen Briefwechsel“ überging der vormalige Ministerpräsident von Preußen und spätere erste deutsche Reichskanzler in seinen drei Memoiren-Bänden Bleichröder praktisch komplett. Lediglich im letzten Band wird der Bankier ein einziges Mal beiläufig erwähnt, doch ohne direkten Bezug zu Bismarck.
Deutsch-nationale Historiker taten ein Übriges – aus augenscheinlich antisemitischen Gründen. Schlimm genug, dass der Nationalheroe Bismarck sich einen Geldjuden hielt, aber entscheidenden tätigen Anteil an der ersten deutschen Einheitswerdung durfte der nun keinesfalls gehabt haben. Fritz Stern: „Die Herausgeber von Bismarcks Gesammelten Werken (1924–1935) veröffentlichten keinen einzigen Brief Bismarcks an seinen Bankier […].“
Selbst noch in dem herausragenden, seinerzeit auch in der Bundesrepublik hoch gelobten Werk des DDR-Historikers Ernst Engelberg „Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer“ von 1985 ist Bleichröder bedeutungslose Randfigur, erwähnt auf lediglich einer halben von insgesamt 839 Seiten und mit einer einzigen Fußnote bedacht. Die allerdings verweist zumindest auf Fritz Sterns Buch.
Dass die Verwandlung Bleichröders in eine, wie es Stern nennt, „Un- oder Nicht-Person“ in der deutschen Geschichtsschreibung im Übrigen unverändert fortwirkt, konnte erst jüngst wieder besichtigt werden – in dem ansonsten interessant gemachten ZDF-Dokudrama „Kaiserspiel. Bismarcks Reichsgründung in Versailles“. Bleichröder hatte, was bei Fritz Stern ausführlich nachzulesen ist, sowohl während Bismarcks Hinarbeiten auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 als auch bei dessen Abwicklung eine aktive Rolle zu spielen. So lief etwa die Auszahlung geheimer preußischer Gelder in Höhe von 100.000 Francs an italienische Revolutionäre über Bleichröder; Ziel: aufständische Aktivitäten in Nizza, um Frankreichs Südflanke zu destabilisieren. Sterns Fazit: „Während des ganzen Krieges war seine [Bleichröders – A.M.] Anwesenheit evident.“ Auch der „Einkauf“ des Bayernkönigs Ludwig II. durch Bismarck, um die Kaiserkrönung Wilhelms I. in Versailles überhaupt zu ermöglichen, lief preußischerseits über Bleichröder, dem im Nachgang die jährliche Zahlung von 300.000 Mark aus dem Welfenfonds (siehe unten) an den Bayernkönig oblag. In Anerkennung seiner Verdienste wurde Bleichröder zur persönlichen Teilnahme an der Kaiserkrönung im Spiegelsaal von Versailles geladen. (Noch in Versailles wurde ihm überdies das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse verliehen.) Im „Kaiserspiel“ hingegen – und obwohl der Film die preußischen Kabalen um Ludwig II. in ihrer zentralen politischen Bedeutung herausstellt – kommt Bleichröder gar nicht vor.
Dabei spielte der Bankier für das letztliche Gelingen des Bismarckschen Kurses der deutschen Reicheinigung von oben und vermittels dreier Kriege – 1864 zusammen mit Österreich gegen Dänemark, 1866 gegen den zuvorigen Verbündeten und schließlich 1870/71 gegen Frankreich – eine sowohl finanz-, als auch innen- wie nicht zuletzt außenpolitische Schlüsselrolle, wie Fritz Stern minutiös herausarbeitet und nachgewiesen hat.
So hatte der Preußische Landtag am 22. Januar 1864 mit 275 gegen 51 Stimmen eine von Bismarck dringend geforderte Anleihe abgelehnt, mit der die erforderlichen Gelder „für das dänische Unternehmen“ sichergestellt werden sollten. „Bismarcks Dilemma“ formuliert Stern folgendermaßen: „[…] um außenpolitische Erfolge vorweisen zu können, die schließlich den Landtag bezwingen würden, brauchte er Geld, das zuzugestehen das Parlament nicht willens war.“ Doch Bismarck wäre nicht Bismarck mit der ihm eigenen Durchsetzungsstärke und Brutalität gewesen, hätte er sich dadurch von seinem Kurs abbringen lassen. Er erklärte rundheraus, wenn man ihm legale Mittel verweigere, werde er sie nehmen, wo er sie finden könne. Und als sein Instrument dafür, etwa „zur Flüssigmachung preußischer Kapitalien“ am Parlament vorbei und teils unter Bruch der preußischen Verfassung, fungierte ein ums andere Mal – Gerson Bleichröder; er „besorgte die Geldmittel für den Krieg“.
Der Bankier, der über die Jahre zugleich Bismarcks Privatvermögen durch finanzielle Investitionen und Spekulationen stetig und sehr erfolgreich mehrte, schoss seinem wichtigsten Kunden gegebenenfalls sogar private Mittel vor, so im Zuge der Kriegsvorbereitungen gegen Österreich, als geheime Vorkehrungen mit potenziellen ungarischen Aufständischen im Rücken Wiens großzügiger Finanzierung bedurften.
Ein weiteres pikantes Kapitel des Zusammenwirkens zwischen Staatsmann und Bankier erstreckte sich über lange Jahre. Im Ergebnis der Niederlage Österreichs im Krieg von 1866 hatte Preußen auf Betreiben Bismarcks das Königreich Hannover – Verbündeter Wiens – annektiert und als Provinz Preußen angegliedert. Dass Bismarck damit in Hannover mit den Welfen zugleich die älteste in Deutschland regierende Dynastie stürzte, kommentiert Fritz Stern so: „Bismarck, der Erzkonservative, warf Fürstenhäuser mit einer Hemmungslosigkeit über den Haufen […], die sich kein deutscher Revolutionär als möglich erträumt hätte.“
Überdies wurde das Vermögen der Welfen im Umfang von 16 Millionen Thalern zugunsten Preußens konfisziert. Daraus wurde jedoch mitnichten totes Kapital, dieses Vermögen warf vielmehr jährlich erkleckliche Zinsen ab – bis zu 600.000 Thaler (etwa elf Millionen Euro) –, und Bismarck erreichte, dass ihm diese Zinsen, als Welfenfonds bezeichnet, vom preußischen Landtag zur freien Verfügung gestellt wurden. Also „ohne öffentlich Rechenschaft ablegen zu müssen“. Heute pflegt man ein derartiges Konstrukt „schwarze Kasse“ zu nennen. Die benutzte man auch schon damals insbesondere für geheime Schmiergeldzahlungen. Fritz Stern gibt unter anderem folgendes Beispiel: „Bismarcks letztes Mittel, wenn er mit der Presse zu tun hatte, war Bestechung, ob mit der deutschen oder ausländischen, oft aus dem Welfenfonds finanziert, oft vom willfährigen Bleichröder durchgeführt.“ Und da Bismarck, so Fritz Stern, bei Gelegenheit einige Journalisten als „Reptilien“ bezeichnet hatte und politische Opponenten Bismarcks mutmaßten, er würde diese „Reptilien“ mittels des Welfenfonds „füttern“, wurde für diesen der Begriff „Reptilienfonds“ geläufig.
Der ist bekanntlich bis in unsere Tage in Gebrauch geblieben, wenn es um „schwarze Kassen“ geht. So nahm 1958 die SPD im Bundestag den damaligen Kanzler Adenauer unter Beschuss, er würde aus einem Reptilienfonds seines Kanzleramtes CDU-Wahlpropaganda finanzieren. Auch Journalisten wurden zu Adenauers Zeiten aus dieser Quelle regierungsfreundlich gestimmt, wie DER SPIEGEL 2007 in Erinnerung rief. Seit Mitte der 1970er Jahre schließlich soll sich Presseberichten zufolge auch die SPD nicht zu fein gewesen sein, im Kanzleramt einen millionenschweren entsprechenden Fonds zu unterhalten und damit auch eigene Parteifinanzierung zu betreiben.
Am Ende seines Buches vermerkte Fritz Stern: „Es gibt kein Epitaph für Bleichröder.“ Immerhin aber ist seine Grabstätte auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee zu Berlin gut erhalten und neben den Gräbern solcher Persönlichkeiten wie etwa Max Liebermann durchaus ein Grund mehr, diesem Friedhof gelegentlich einen Besuch abzustatten.
Fritz Stern: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1988, 860 Seiten; nur noch antiquarisch.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Bismarck, Fritz Stern, Gerson Bleichröder, Preußen, Reichsgründung