25. Jahrgang | Nummer 5 | 28. Februar 2022

Ostdeutschland seit 1989/90: Fotografische Zeugnisse

von Ulrich Busch

Der Umbruch in Ostdeutschland, der Untergang der DDR und die deutsche Vereinigung liegen jetzt mehr als drei Jahrzehnte zurück – und sind doch nicht wirklich vergangen. Dies hat etwas damit zu tun, dass diese für Millionen Menschen so außerordentlich bedeutsamen Prozesse bisher äußerst einseitig, ideologisch voreingenommen und daher insgesamt völlig unzureichend rezipiert und geistig verarbeitet worden sind. Inzwischen versuchen zahlreiche Projekte, Veranstaltungen, Publikationen, Diskussionen, Dokumentationen, Filme, Ausstellungen und andere Formen der wissenschaftlichen, medialen und künstlerischen Auseinandersetzung das bisher Versäumte nachzuholen. Nicht alle Versuche dieser Art sind von Erfolg gekrönt. Ich denke hier zum Beispiel an die vielen TV-Serien und Spielfilme, worin plötzlich „der Osten“, die Geschichte der DDR und die Probleme Ostdeutschlands thematisiert werden. Es gibt aber auch Beispiele, wo dies ganz hervorragend gelungen ist und wo wissenschaftliche wie künstlerische Arbeiten entstehen, die das Vereinigungsthema in einem ganz neuem Licht erscheinen lassen. Hierzu zählt das breit angelegte publizistische Projekt „Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium“, das von der Soziologin Yana Milev 2018 begonnen wurde und seitdem erfolgreich durchgeführt wird.

Das Forschungs- und Publikationsprojekt umfasst insgesamt neun Bände, die im Verlag Peter Lang herausgegeben werden. Bisher liegen fünf Bände vor. Der fünfte Band „Zeugnisse. Teil I: Fotografie“ ist Ende 2021 erschienen. In ihm wird eine große Zahl ausgewählter Werke künstlerischer Fotografie vorgestellt und auf „ihre Zeugnishaftigkeit in Bezug auf die verschwundenen Lebenswelten der DDR und auf den Wert des Nachhalls derselben in unserer heutigen Gesellschaft befragt“. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Texten, deren Autorinnen und Autoren zumindest immer bemüht sein sollten, Tatsachen wahrhaftig und möglichst objektiv darzustellen, erheben die hier vorgestellten Fotografien keinen derartigen Anspruch; sie bleiben subjektiv und wollen dies auch sein. Ihr Anliegen ist es, den Betrachter dazu einzuladen, sich anhand des dargebotenen Materials ein eigenes und differenziertes Bild von der jüngeren ostdeutschen Geschichte zu machen, von der Zeit des Aufbruchs seit 1949 über die Zeit des Umbruchs seit 1989/90 bis hin zu den Gegensätzen der 2010er und beginnenden 2020er Jahre. Dafür muss man sich allerdings etwas Zeit nehmen, denn bei einem flüchtigen Durchblättern des Bandes erschließt sich der Gehalt der einzelnen Fotografien nicht. Auch trifft zu, was im Vorwort steht, nämlich, dass es „die Kontextualisierung ist, die das Projekt von vornherein von dem üblichen Ausstellungsniveau abhebt“. Dies gilt explizit für den vorliegenden Band, welcher „Arbeits-, Kultur- und Lebenswelten in der DDR und deren Verschwinden in Folge der ‚Wiedervereinigung‘“ fotografisch dokumentiert und textlich interpretiert: „Es ist ein Abschied ohne Trost und Gnade.“

Der Band enthält 18 Positionen einer „Visuellen Soziologie“. Hierunter wird ein „empirischer Forschungsgegenstand“ verstanden, der auf Fotografie und Film als verbreiteten Methoden der Feldforschung basiert. Derartige Visualisierungen, wie sie hier vorgenommen wurden, sind in der Ethnologie schon länger bekannt, für die soziologische Forschung bisher jedoch Neuland. Es ist der Herausgeberin Yana Milev insofern hoch anzurechnen, dass sie, die vor ihrer wissenschaftlichen Laufbahn bereits eine in Fachkreisen breite Anerkennung gefundene künstlerische Karriere „hingelegt“ hat, mit der Visualisierung eine neue Methode in die soziologische Forschung hat einfließen lassen. Es sei in diesem Zusammenhang auf den gehaltvollen Essay „Yana Milevs ‚Projektionsforum III‘ auf der documenta X“ von Christoph Tannert in vorliegendem Band hingewiesen. Immerhin war sie die erste und bisher einzige ostdeutsche Künstlerin auf einer documenta in Kassel. Der Autor beschreibt dort, wie Milev sich nicht scheut, „die Abrissbirne über der politischen Beschwichtigungsliteratur zu schwingen“ und wie sie sich auch in ihren akademischen Arbeiten als Soziologin „ihr künstlerisches Rebellentum bewahrt hat“, mit unkonventionellen Forschungsmethoden arbeitet und „die Streicheleinheiten der Politik“, mit denen die Wiedervereinigung der Deutschen als Erfolgsgeschichte gepriesen werden soll, vehement attackiert. Das gefällt natürlich nicht allen in der scientific community. So bleibt der streitbaren Soziologin und wortgewandten Publizistin trotz beachtlicher wissenschaftlicher Produktivität heute nicht nur die gebotene offizielle Aufmerksamkeit und Anerkennung versagt. Ihr wird selbst von wissenschaftlichen Einrichtungen und Organisationen, die in der DDR verankert und deren Protagonisten überwiegend Ostdeutsche sind, mitunter die Anerkennung und Unterstützung verweigert. Allzu unkonventionell, politisch provokant und manchmal auch zu polemisch erscheinen den akademischen Eliten ihre Analysen und Essays. Unangepasste Intellektuelle hatten es noch nie leicht in Deutschland. Dies gilt immer noch.

Ähnliches gilt für die im Buch vertretenen Fotografinnen und Fotografen. Auch sie haben es vorgezogen, ein ungeschminktes Bild der Wirklichkeit zu zeigen und kein Hehl daraus zu machen, sich als „fremd im eigenen Land“ zu präsentieren. Ihre Bilder dokumentieren eine untergegangene, eine verschwundene Welt, eine Welt die ausgelöscht worden ist. Aber auch eine Gesellschaft im Umbruch und im Übergang, eine Welt, in der sich Vertrautes mit Fremdem mischt, Altes mit Neuem und Schönes mit Hässlichem. Ihre Fotografien wirken beeindruckend und nachdenklich stimmend auf den Betrachter, so zum Beispiel die Bilder von Christian Borchert, Rolf Anders, Evelyn Richter, Eva Mahn, Thomas Uhlemann, Maria Notbohm, Jens Rötzsch, Barbara Klemm, Andreas Rost, Philipp Beckert, Marcel Noack und anderen Künstlern. Exemplarisch sei die Fotoserie „Stadtumbau Ost“ von Jens Rötzsch genannt, welche belegt, wie in den 2000er Jahren in ostdeutschen Städten Tausende von Neubauwohnungen abgerissen („zurückgebaut“) worden sind. Eine Fehlleistung, die erst heute jedem so richtig klar wird. Diese Fotos sind Farbaufnahmen, ansonsten finden sich in dem Buch aber größtenteils Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Nicht alle kommen auf dem verwendeten Papier optimal zur Geltung. Die beabsichtigte Wirkung ist insgesamt aber trotzdem gegeben. Dem Buch ist eine möglichst große Verbreitung und Popularisierung zu wünschen. Leider steht dem der hohe Preis etwas entgegen. Aber Bibliotheken sollten das Geld dafür aufbringen!

Yana Milev, Philipp Beckert, Marcel Noack (Hrsg.): Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90. Zeugnisse Teil I: Fotografie, Verlag Peter Lang, Berlin 2021, 690 Seiten, 114,95 Euro.