25. Jahrgang | Nummer 3 | 31. Januar 2022

Wie weiter mit dem Ukraine-Konflikt?

von Wilfried Schreiber

Es gibt wohl gegenwärtig kein sicherheitspolitisches Thema in Deutschland, das brisanter ist als das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine. Der transatlantische Westen bewertet russische Truppenbewegungen in Grenznähe zur Ukraine als Anzeichen eines unmittelbar bevorstehenden Einmarschs und droht mit „schwersten Sanktionen“. Russland dagegen spricht von laufenden militärischen Provokationen der NATO gegen Russland, wie dem jüngsten Nuklearkriegsmanöver Steadfast Noon und Marineübungen im Schwarzen Meer, im Mittelmeer sowie in der Ostsee, die wir in Deutschland bisher kaum wahrgenommen haben. Dazu kommen die Aktionen der Ukraine gegen die völkerrechtlich nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine, die sich 2014 mit russischer Unterstützung abgespalten hatten.

Beide Seiten beklagen die Nichteinhaltung der zwei Minsker Abkommen von 2014, die Festlegungen für einen Waffenstillstand sowie die Gewährung autonomer Rechte dieser Gebiete betreffen. Es scheint ein Streit zwischen Nachbarstaaten zu sein, um dessen Deeskalation sich der Westen besorgt gibt. Russland dagegen sieht im transatlantischen Westen den eigentlichen Brandstifter für diesen Konflikt und begründet das mit der Einkreisung Russlands durch die NATO und der aktiven Rolle der USA beim Regime Change 2014 in der Ukraine. Die damalige – und auch heute wieder amtierende – Unterstaatsekretärin Victoria Nuland bestätigte dies seinerzeit durch die Mitteilung, dass die USA schließlich fünf Milliarden Dollar für den Umsturz in Kiew ausgegeben hätten.

Hier muss korrekterweise eingefügt werden, dass die heutigen Nachbarn Ukraine und Russland über etwa 600 Jahre in einem gemeinsamen staatlichen Gebilde aufs Engste miteinander verbunden waren. Kiew war die erste Hauptstadt Russlands. Und das einigende Band dieses Staatswesens bildete vor allem die christlich-orthodoxe Kirche, die bis heute das Denken und die Lebensweise der Menschen besonders in den ostukrainischen Gebieten sowie in Russland prägt. Durch die – infolge von zwei Weltkriegen – Verschiebung der ukrainischen Grenze nach Westen, an der Deutschland nicht unbeteiligt war, vollzog sich eine kulturelle Spaltung der Gesellschaft in der Ukraine, die bei der Beurteilung der inneren Widersprüche dieses Landes nicht unberücksichtigt bleiben kann.

Eine logische und politisch vernünftige Konsequenz daraus wäre die Bewahrung einer Mittlerrolle der Ukraine in dem inzwischen „traditionellen“ Konflikt zwischen dem Westen und Russland. Genau das ist auch der Kern der Position, die Russland in zwei relativ kurz gehaltenen Texten in Vertragsform dem Westen Ende des Jahres 2021 unterbreitet hat, – sowohl den USA als auch der NATO –, um eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern.

Ohne hier näher ins Detail zu gehen, beziehen sich die Vorschläge auf Vereinbarungen, die die Neutralität der Ukraine bewahren sollen, sowie auf Regeln zur Stationierung von Truppen und Waffensystemen im Grenzraum der NATO, der Ukraine und von Russland selbst.

Zunächst haben die deutschen Mainstreammedien Russland für sein Ansinnen geradezu verlacht. Inzwischen ist vorsichtiges Zurückrudern angesagt. Letztlich sind alle Seiten an Sicherheitsgarantien unter den Bedingungen eines veränderten geostrategischen Kräfteverhältnisses interessiert. Das bisherige Ergebnis ist also widersprüchlich, lässt aber durchaus die Richtung eines Lösungsprozesses erkennen.

Ein positives Signal in diese Richtung war nicht zuletzt die gemeinsame Erklärung der fünf führenden Kernwaffenmächte (zugleich Ständige Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen) vom 2. Januar dieses Jahres, in der die alte Erkenntnis aus der Blockkonfrontation der 1980er Jahre bestätigt wurde, dass ein Kernwaffenkrieg weder führbar noch zu gewinnen ist. Auf dieser deklaratorischen Grundlage erfolgte eine erste Gesprächsrunde zwischen den USA und Russland am 9. Januar in Genf, deren wesentlichstes Ergebnis in der Bekanntgabe weiterer Gespräche und Verhandlungen im Rahmen verschiedener Formate bestand. Dieser Prozess wird sich also noch eine Welle hinziehen und von wechselseitigen Drohgebärden begleitet werden, wie auch die erste Zusammenkunft des NATO-Russland-Rates am 12. Januar in Brüssel nach langer Unterbrechung zeigte.

Man wird Geduld haben müssen und Zeit, denn alle Beteiligten wollen ihr Gesicht nicht verlieren. Sie suchen nach Kompromissen, die als Sieg ausgegeben werden können. Insofern sollte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die USA der Welt erklären werden, mit ihrer Politik der Härte gegen Russland einen Einmarsch in die Ukraine verhindert zu haben – einen Einmarsch, den die Russen klugerweise nie wirklich vorhatten. Was die Amerikaner natürlich auch von Anfang an wussten. Aber auch so können Verhandlungsergebnisse langfristig vorbereitet werden.

Für den Ausgang dieses Verwirrspiels werden zweifellos auch die innenpolitische Situation der beteiligten Länder eine Rolle spielen sowie die Fähigkeiten ihres Führungspersonals, strategisch zu denken. Da diese Fähigkeiten am ehesten bei den USA und Russland ausgebildet scheinen, dürften beide Kontrahenten – mit dem neuen Rivalen China im Hintergrund – auch die Hauptakteure dieses Great Game bleiben.

Die kritischen Punkte der sich vorsichtig anbahnenden Gespräche zwischen Russland und den USA – nebst deren Partnern – betreffen die offenen und geheimen Verlegungen von Truppen und Waffen in solche Länder wie Rumänien, Polen, Griechenland und die Ukraine sowie ins Schwarze Meer und die Ostsee. Insofern ist es bedeutsam, dass Russland in seinen beiden Vertragsentwürfen gleich am Anfang auf völkerrechtlich gültige Vereinbarungen verweist, wie die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die Schlussakte von Helsinki 1975, die OSZE-Charta von 1999 oder die Grundakte über die Beziehungen zwischen Russland und der NATO von 1997.

Besonderes Gewicht bei den Gesprächen und Verhandlungen werden voraussichtlich Fragen der Stationierung offensivfähiger Trägersysteme sowie entsprechender Führungseinrichtungen haben. Das betrifft insbesondere das in Rumänien stationierte Aegis-Ashore-Raketenabwehrsystem, das kurzfristig auf atomare Tomahawk-Marschflugkörper umgerüstet werden kann und von dem ein weiteres in Polen demnächst in Dienst gehen soll. Große Bedeutung dürften auch die Konsequenzen der im November 2021 erfolgten Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos der US-Army in Wiesbaden haben. Von dort aus sollen die nuklearen Mittelstreckensysteme einer neuen Generation gesteuert werden, mit deren Einsatzbereitschaft für den europäischen und afrikanischen Raum ab 2023 zu rechnen ist, darunter Hyperschallraketen vom Typ „Dark Eagle“. Über konkrete Stationierungsorte ist noch nichts bekannt.

In den letzten Wochen waren vom russischen Präsidenten wiederholt Ankündigungen zu hören, dass beim Überschreiten „roter Linien“ – also auch für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen – neue Antworten „militärisch-technischer Art“ gefunden würden. Das kann man durchaus als Hinweis darauf verstehen, dass Standorte und Führungseinrichtungen für nukleare Waffen auch selbst militärische Ziele sein können. Diese Gefahr scheint die Öffentlichkeit in Deutschland noch gar nicht auf dem Schirm zu haben. Im Oktober 1981 hatte eine solche Erkenntnis 300.000 Bürger auf die Beine gebracht, um im Bonner Hofgarten gegen die nukleare Bedrohung zu demonstrieren.

Während die Linkspartei noch über ihre Wahlniederlage im Herbst 2021 nachdenkt, hat der Willy-Brandt-Kreis der SPD zumindest mit einer politischen Erklärung reagiert. Darin werden zum Beispiel ein Moratorium für die Stationierung neuer Waffensysteme, wechselseitige Inspektionen, die Reaktivierung des Open Skies-Abkommens, ein kontinuierlicher strukturierter Dialog auf höchster Ebene, eine hochrangige Konferenz auf der Grundlage der Helsinki-Schlussakte von 1975 und andere Maßnahmen gefordert. (Zum Wortlaut hier klicken.) Das ist schon mal ein Ansatz, um für die verworrene und gefährliche Situation in der Ukraine und in ihrem gesamten Umfeld eine Lösung zu finden.

Ob und wie sich die Kontrahenten einigen – und auch, wie lange dieser Prozess dauern kann – ist noch offen. Viel wird davon abhängen, ob der Westen bereit ist, die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands anzuerkennen und Verhandlungen auf Augenhöhe zu akzeptieren. Die neue deutsche Regierungskoalition unter Olaf Scholz kann hierfür einen wichtigen Betrag leisten, wenn sie zur Friedenspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr zurückfindet. Damit könnte sie beweisen, dass Deutschland tatsächlich bereit ist, mehr Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa zu übernehmen.