Vielleicht war dies die eindrucksvollste Szene eines Films aus der Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die beiden entflohenen Gefangenen, der Weiße Joker, gespielt von Tony Curtis, und der Schwarze Cullen, gespielt von Sidney Poitier, werden gejagt. Sie sind an den Handgelenken aneinander gekettet, bis ihnen eine weiße Frau, gespielt von Cara Williams, hilft und sie versteckt. Doch schickt sie den nichtsahnenden Schwarzen in einen Sumpf, damit er ein für allemal verschwindet. Als Joker dies bemerkt, verlässt er sofort die Frau, läuft Cullen nach, um ihn zur Umkehr zu bewegen. Seitdem bleiben beide ohne die Ketten beisammen; sie werden verfolgt, und ein Schuss trifft Joker. Cullen schleppt ihn zum Bahndamm und springt auf einen anfahrenden Güterzug. Joker greift Cullens ausgestreckte Hand, doch verlässt ihn die Kraft. Der Schwarze aber lässt die Hand des Weißen nicht los, und beide stürzen den Bahndamm hinunter, so als seien sie noch aneinander gekettet wie in vorangegangenen Passagen des Films. Der Sheriff (Theodore Bikel) tritt mit gezogenem Revolver auf beide zu; Cullen beginnt denselben Blues zu singen wie in der Nacht, in dem der Film beginnt. Damit endet „The Defiant Ones“ (Flucht in Ketten), ein Film, den der Produzent und Regisseur Stanley Kramer 1958 fast nur auf eigene Kosten drehte, da keine der großen Firmen bereit war, sich finanziell zu beteiligen.
In einer Zeit der „Rassentrennung“, der Lynchmorde und Sprengstoffattentate, die den Süden der USA erschütterten, setzte ein solcher Film mutige politische und künstlerische Zeichen. Sidney Poitier wurde für den Oscar nominiert. Noch erhielt er ihn nicht; dies geschah erst 1963 für die Rolle des Homer Smith in „Lilies on the Field“ (Lilien auf dem Feld) – als erster Afroamerikaner, der den Preis als Hauptdarsteller verliehen bekam (Hattie McDaniel hatte ihn 1940 für eine Nebenrolle in „Vom Winde verweht“ erhalten). Bei der Zeremonie küsste ihn Anne Bancroft, die ihm die Statue übereichte, leicht auf die Wange – bis dahin war es undenkbar, dass eine Weiße einen Schwarzen öffentlich im Fernsehen küsste.
Unterdessen war Poitiers Ruhm durch seine Darstellung des Porgy in Otto Premingers „Porgy and Bess“ gewachsen. 1967 spielte er „In the Heat of the Night“ (In der Hitze der Nacht) einen Polizeidetektiv aus dem Norden der USA, der einen Mordfall in einer Kleinstadt im noch immer vom Rassismus beherrschten Süden aufklären soll. Im gleichen Jahr spielte er in „Guess Who’s Coming to Dinner“ (Rat mal, wer zum Essen kommt), wieder unter Stanley Kramers Regie, einen jungen Arzt, der in die Familie der weißen Oberschicht einheiratet – mit Katherine Houghton, Katherine Hepburn und Spencer Tracey in dessen letzter Rolle. Zu dieser Zeit war in 17 US-Staaten die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen noch verboten.
Als Schauspieler verkörperte Poitier überzeugend Charaktere, die sich als Einzelne mit rassistischen Vorurteilen auseinandersetzen müssen. Dass er keinen schwarzen Revolutionär oder Volksführer im Film darstellte, haben ihm übereifrige Kritiker als Anpassung an den weißen Liberalismus lange vorgeworfen. Mit dem Fernsehfilm „Mandela and De Klerk“, in dem Poitier sein erklärtes Vorbild im Fernsehen darstellen durfte, erfüllte er sich 1997 den Wunsch, einer direkt politischen Botschaft künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Schon 1979 war Poitier der Erzähler in „Paul Robeson – Tribute to an Artist“, ein Film, der mit einem Oscar für die beste Dokumentation ausgezeichnet wurde.
Sidney Poitiers künstlerische Karriere erscheint oberflächlich wie eine Erfolgsgeschichte des amerikanischen Liberalismus, der nach einem Lernprozess schließlich eine vom Rassismus geläuterte Gesellschaft schafft, in der die Afroamerikaner letztendlich die verdiente Anerkennung bekommen. Doch als Poitier 2002 seinen zweiten eigenen Oscar bekam, diesmal für sein Lebenswerk, sagte Denzel Washington in seiner Laudatio: „Vor Sidney konnten afroamerikanische Schauspieler in großen Filmproduktionen nur Nebenrollen übernehmen, die für gewisse Teile des Landes leicht herauszuschneiden waren. Man kann aber Sidney Poitier nicht aus einem Sidney-Poitier-Film herausschneiden.“ Es war Harry Belafonte, der seinen Freund Poitier bewog, bei Veranstaltungen der Bürgerrechtsbewegung aufzutreten.
Gerade Poitiers Weg zum Ruhm zeigt, wie dornig der Weg zur Gleichberechtigung für Afroamerikaner war. Nur einige Wegmarken, die alle in die Lebenszeit des 1927 Geborenen fallen, seien genannt:
Im Jahr 1929, Poitier war zwei Jahre alt, wurde John Hope zum ersten afroamerikanischen Präsidenten der Atlanta University gewählt; er schuf wegweisende Graduiertenprogramme, die die Hochschulbildung für Schwarze entscheidend vorantrieben. Jessie Daniel Ames, eine Weiße, gründete 1930 die Association of Southern Women for the Prevention of Lynching. Sie brachte 40.000 weiße Frauen dazu, ein Gelöbnis gegen den Lynchterror an Schwarzen im Süden zu unterzeichnen. 1941 erließ Präsident Franklin Delano Roosevelt den „Fair Employment Act“, um die Gleichbehandlung und Schulung aller Mitarbeiter von Rüstungsunternehmen, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, zu gewährleisten. 1948 ordnete sein Nachfolger Harry S. Truman das Ende der Rassendiskriminierung in den Streitkräften an. Die Aufhebung der „Rassentrennung“ erfolgte jedoch erst seit 1950. Erst 1955 durfte die Sängerin Marian Andersen als erste schwarze Solistin in der New Yorker Metropolitan Opera auftreten, in dem Jahr, in dem die Bürgerrechtsbewegung nach der Ermordung des schwarzen Jugendlichen Emmett Till und der Busboykott-Bewegung gegen die Trennung schwarzer und weißer Fahrgäste Massencharakter annahm, wofür seitdem die Namen von Rosa Parks und Martin Luther King standen. Der Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963 setzte ein mächtiges Zeichen, doch selbst die von Präsident John F. Kennedy vorbereitete und von seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson 1965 durchgesetzte offizielle Aufhebung der rassistischen Diskriminierung beseitigte weder den strukturellen noch gar den gesellschaftlichen Rassismus: Black Lives Matter entstand 2013 aus diesen Gründen.
Poitier erhielt höchste Ehrungen: Als Staatsbürger nicht nur der USA, sondern auch der Bahamas, des Herkunftslands seiner Familie, agierte er von 1997 bis 2007 als Botschafter in Japan (wobei er sich zumeist vertreten ließ). In autobiografischen Schriften schilderte er seinen harten Weg, der ihn von Florida nach New York führte, wo er sich zuerst mit Gelegenheitsarbeiten aller Art durchschlug, bevor ihm der Einstieg in den Schauspielerberuf gelang. Zwei Ehen entstammten sechs Töchter.
Sidney Poitier, am 20. Februar 1927 in Miami, Florida, geboren, verstarb 94-jährig am 6. Januar auf den Bahamas – gerade als das „klassische“ Hollywood auch den Tod von Betty White und Peter Bogdanovich zu beklagen hatte, nur Wochen nach dem Ableben von Poitiers einstiger Filmpartnerin Cara Williams. In Reaktion auf Poitiers Tod schrieb Barack Obama: „Durch seine bahnbrechenden Rollen und sein einzigartiges Talent verkörperte Sidney Poitier Würde und Anmut und machte deutlich, dass Filme die Menschen einander näher bringen können. Außerdem öffnete er einer ganzen Generation von Schauspielern die Türen.“ In der Tat: Ohne Poitier wären die Karrieren afroamerikanischer Weltstars von Whoopie Goldberg bis Denzel Washington kaum denkbar. Er war ein Wegbereiter der afroamerikanischen Schauspielkunst.
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