25. Jahrgang | Nummer 3 | 31. Januar 2022

Kafka als Zeichner

von Mathias Iven

Bereits 1953 gab es erste Überlegungen für die Veröffentlichung von Kafkas zeichnerischem Werk. Man wusste von rund 40 Skizzen, die nach und nach aufgetaucht waren. Einige der Zeichnungen wurden als Illustrationen für die Umschläge der Kafka-Taschenbuchausgaben des Fischer Verlages genutzt, zu einer eigenständigen Publikation kam es jedoch nicht. Jahrzehnte später sah die Situation anders aus.

Im Verlauf eines langwierigen Prozesses, in dem es um den Teil von Kafkas Nachlass ging, der ursprünglich Max Brod gehörte und nach dessen Tod von seiner Erbin und vormaligen Sekretärin Ilse Ester Hoffe in einem Züricher Banksafe unter Verschluss gehalten wurde, kam der Oberste Gerichtshof Israels im August 2016 zu dem Urteil, dass dieses Konvolut der israelischen Nationalbibliothek zu übergeben sei (siehe Blättchen 6/2019). Die Mitte 2019 begonnene Sichtung des Vorhandenen kam, was Kafkas zeichnerische Hinterlassenschaft betraf, einer Sensation gleich: Es fanden sich weit mehr als 100 Zeichnungen und Skizzen, die vereint mit den bereits bekannten Stücken und ergänzt durch ein ausführliches beschreibendes Werkverzeichnis jetzt in einem opulent gestalteten, großformatigen Band vorliegen und selbst den eingeweihten Kafka-Verehrern noch ein „Aha“ entlocken dürften. Herausgegeben hat das Ganze der Züricher Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher.

Während seines Studiums an der Prager deutschen Universität hatte Kafka – parallel zu seinen ersten Anfängen im Schreiben – mit dem Zeichnen begonnen. Er nahm zeitweise Unterricht und kam zudem in Kontakt mit der Prager Malerszene. Dass wir uns heute auch mit diesem Teil von Kafkas Werk beschäftigen können, verdankt sich einmal mehr der Initiative seines Freundes Max Brod, der dazu 1948 bemerkte: „Seinen Zeichnungen gegenüber war [Kafka – M.I.] noch gleichgültiger oder, besser gesagt, noch feindlicher als in seinem Verhältnis zu seinen literarischen Hervorbringungen“

Bei der Einordnung von Kafkas zwischen 1901 und 1924 entstandenen Zeichnungen in das Gesamtwerk geht es für die Forschung zum einen um die „historische und biographische“ Dimension und zum anderen um den „ästhetischen und poetologischen“ Aspekt, so Andreas Kilcher. Kafkas minimalistische und vielfach fragmentarische Zeichnungen deuten mit nur wenigen Strichen Gesichter und Gestalten an. Kilcher betont, dass es dennoch verfehlt wäre, „sie als bloße Entwürfe zu sehen“. Er verortet sie im Schriftkontext der Tagebücher und Briefe und stellt die These auf: „Kafkas Zeichnungen sind – paradox, aber eigentlich ausgedrückt – unbildliche Bilder.“ Wohingegen Jeremy Adler in seiner Besprechung für die FAZ meint: „Denn wie immer grotesk sie auch sein mögen, sind die Zeichnungen wie Kafkas Texte im Grunde objektivierte Selbstportraits.“ Und Daniel Kehlmann schrieb in der ZEIT: „Denn das Eigentümliche ist doch die Fröhlichkeit, die über [den Zeichnungen – M.I.] schwebt – und es ist nicht ihre eigene, sondern die des Mannes, der sie zu Papier gebracht hat.“

Doch schauen Sie selbst!

Andreas Kilcher (Hrsg.): Franz Kafka – Die Zeichnungen, Verlag C. H. Beck, München 2021, 368 Seiten, 229 Abbildungen, 45,00 Euro.