22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Noch ein Kafka-Prozess

von Mathias Iven

Oberster Gerichtshof Israels, 27. Juni 2016. Ursprünglich ging es nur um die Beglaubigung eines Testaments. Doch was an diesem Tag nach bald neun Jahren ein Ende fand, war mehr als der Streit um einen Nachlass. Über Jahre hinweg hatten israelische und internationale Zeitungen ausgiebig über den Prozessverlauf berichtet – das Interesse hatte jedoch irgendwann nachgelassen. Am letzten Verhandlungstag war lediglich ein Journalist im Saal: Der in Jerusalem lebende amerikanische Autor und Übersetzer Benjamin Balint wurde zum Zeugen eines bühnenreifen Schauspiels.
Worum ging es? Max Brod, der Freund Franz Kafkas und Herausgeber von dessen Werken, hatte seiner Sekretärin und langjährigen Lebensgefährtin Ester Hoffe noch zu Lebzeiten einige Kafka-Manuskripte geschenkt, die sie selbst testamentarisch an ihre beiden Töchter Eva und Ruth weitergeben wollte. Jahrzehnte nach dem Tod Max Brods, der 1968 in Tel Aviv gestorben war, sollte nun über die Rechtmäßigkeit sowohl der Schenkung als auch der Erbschaft entschieden werden.
In Israel, so die Gesetzeslage, kann ein Testament nur vollstreckt werden, wenn das Nachlassgericht dessen Gültigkeit anerkannt hat. Außerdem kann das Justizministerium einschreiten, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt. Unmittelbar nach dem Tod Ester Hoffes beantragten ihre Töchter im September 2007 einen Erbschein. Völlig überraschend und eher zufällig tauchte in diesem Moment das Testament von Max Brod auf und gelangte in die Hände von Meir Heller. Und da begannen die Schwierigkeiten. Als Anwalt der Israelischen Nationalbibliothek intervenierte Heller. Brod hatte nicht mehr und nicht weniger verfügt, so die Argumentation, als dass Ester Hoffe dessen Papiere zu seinen Lebzeiten verwahren sollte. Nach seinem Tod sollten sie an ein öffentliches Archiv übergehen.
In den Jahren zuvor hatte Ester Hoffe immer wieder Kafka-Handschriften verkauft, und nie war von der Nationalbibliothek Einspruch erhoben worden. Nun ging es also darum, weitere Verkäufe zu verhindern. Die Verhandlungen darüber liefen bis zum Oktober 2012. Dabei sollte sich die Frage, „wie wichtig Brod und Kafka das jüdische Volk und seine politischen Ziele waren“, als entscheidend erweisen. Das Familiengericht Tel Aviv verweigerte den Erbschein.
Einen Monat darauf legte Eva Hoffe Berufung ein. Nunmehr hatte sich das Bezirksgericht Tel Aviv mit dem Fall zu beschäftigen. Wieder gingen Jahre ins Land. Am 29. Juni 2015 erklärten die Richter, dass Eva Hoffe „weniger die Erfüllung von Brods wahrem Willen“ betreibe, sondern vielmehr die Absicht hege, „aus den Werten im Nachlass Gewinn zu erzielen“. Die erstinstanzliche Entscheidung wurde bestätigt: „Ester Hoffe hatte kein Recht, Kafkas Handschriften zu verkaufen, zu verschenken oder zu vererben.“
Eine Frage schien somit juristisch entschieden zu sein. Und was war mit der Archivierung des Nachlasses? Wem sollten die Hinterlassenschaften Kafkas und Brods gehören? In diesem Zusammenhang kam die dritte am Prozess beteiligte Partei ins Spiel: das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, „das vor Gericht das Recht erwirken wollte, Eva Hoffe ein Kaufangebot für die Manuskripte zu unterbreiten“. Im Übrigen wurde von dieser Seite darauf hingewiesen, dass Kafka – von dessen Werk bis heute keine hebräische Gesamtausgabe existiert – „in Israel nie in den literarischen Kanon eingegangen ist und für das Projekt der nationalen Erneuerung keine Rolle spielte“. In einem jüngst in der Zeit veröffentlichten Artikel brachte es Benjamin Balint auf den Punkt: „Zwei Länder bemühten sich, mit Kafkas Namen ein nationales ,Wir‘ zu verknüpfen.“ Für das Bezirksgericht zumindest war die Entscheidung klar: „Max Brod hätte es wohl rundweg abgelehnt, seinen literarischen Nachlass einem Archiv in Deutschland zu übergeben.“
Damit war die Sache aber noch immer nicht abgeschlossen. Die nächsthöhere Instanz hatte jetzt zu entscheiden. Am 7. August 2016, sechs Wochen nach der von Balint besuchten Verhandlung, kam der Oberste Gerichtshof Israels in der 20 Seiten umfassenden Urteilsbegründung zu dem das nationale Interesse berücksichtigenden Schluss, „dass Eva Hoffe den gesamten Brod-Nachlass einschließlich Kafkas Manuskripten der Israelischen Nationalbibliothek übergeben müsse, ohne dass sie auch nur einen Schekel Entschädigung dafür erhielt“. Ein neuerlicher Antrag Eva Hoffes zur Wiederaufnahme des Verfahrens wurde am 13. Dezember 2016 abgelehnt.
Das Geschilderte mag trocken klingen. Doch wer Kafkas Werke im Regal zu stehen hat, kommt an dem Buch von Benjamin Balint nicht vorbei. Über das Juristische dieses „kafkaesken“ Rechtsstreits hinaus geht es um die Geschichte einer Freundschaft, die Max Brod einmal mit den Worten beschrieb: „Das Schöne und Einzigartige der gegenseitigen Beziehung lag darin, dass wir einander ergänzten und einander […] viel zu geben hatten.“ Und, so fasst es Balint am Schluss zusammen, es geht um ein Lehrbeispiel: „Der Prozess zeigte auch, wie sehr diese Erben von dem, was sie zu besitzen suchten, erschüttert wurden. Der latenten Macht gewahr, die Kafkas Vorstellungskraft innewohnt, wollten sie nicht nur besitzen, sondern auch kontrollieren und klassifizieren.“

Benjamin Balint: Kafkas letzter Prozess. Aus dem Englischen von Anne Emmert. Berenberg Verlag, Berlin 2019, 336 Seiten, 25,00 Euro.