25. Jahrgang | Nummer 3 | 31. Januar 2022

Gerechtigkeit durch Steuerprogression?

von Ulrich Busch

Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie haben die Regierungen Milliarden in die Wirtschaft gepumpt, doch ein Großteil davon ist bei großen Unternehmen und Superreichen hängengeblieben. „Während ihr Vermögen so schnell wächst wie nie zuvor und einige von ihnen Ausflüge ins All unternehmen, hat die weltweite Armut drastisch zugenommen“, so Manuel Schmitt von Oxfam Deutschland (siehe auch Letzte Meldung in dieser Ausgabe).

Die hier angesprochene Ungleichheit wird von vielen zugleich als krasse Ungerechtigkeit wahrgenommen. Geradezu als ein „Triumph der Ungerechtigkeit“, denn die Unternehmen und Privatpersonen, die in der Pandemie bisher die größten Vermögenszuwächse verbucht haben, sind auch zugleich diejenigen, die sich seit Jahrzehnten erfolgreich ihrer Steuerpflicht entziehen.

Man kann diese skandalöse Tatsache unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutieren, unter ökonomischem Aspekt, aus politischer Perspektive, juristisch und moralisch. Indem die Autoren des vorliegenden Buches, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, für ihre Argumentation den Begriff der „Gerechtigkeit“ bemühen, setzen sie vor allem auf das moralische Argument. Sie kritisieren die von der neoliberalen Politik tolerierte oder sogar noch geförderte massive Steuervermeidung der Vermögenden als „ungerecht“ sowie „undemokratisch“ und plädieren stattdessen für die sofortige Herstellung von mehr „Steuergerechtigkeit“. Aber was verstehen sie darunter? Zum einen höhere Steuern für Großunternehmen, multinationale Konzerne und vermögende Privatpersonen durch Schließung von Steuerschlupflöchern, das Austrocknen von Steueroasen und strengere Kontrollen, vor allem aber eine progressive oder progressivere Besteuerung. Erstere Forderung dürfte, außer bei den Betroffenen selbst, von durchaus bestehenden Ausnahmen abgesehen, kaum auf Widerspruch stoßen, letztere aber schon. Auch wenn die Forderung nach einer progressiven Besteuerung so manchem Politiker leicht über die Lippen geht, so fällt es den meisten doch schwer, sie als „gerecht“ zu begründen.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die heutige Situation: Hierzulande zahlen alle, die steuerpflichtig sind, Steuern, aber nicht alle dieselben und zudem in unterschiedlicher Höhe. Dabei sind diverse Steuerarten wie Lohnsteuer, Einkommensteuer Verbrauchssteuern, Körperschaftsteuer, Grundsteuer, Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und andere mehr zu unterscheiden. Für einige dieser Steuerarten, zum Beispiel für Verbrauchssteuern wie die Tabaksteuer, die Branntweinsteuer und die Energiesteuer, gilt grundsätzlich und unabhängig von der Bezugsgröße für alle Steuerpflichtigen ein und derselbe Steuersatz, für andere Steuerarten aber gerade nicht, weil bei diesen eine progressive Besteuerung erfolgt. Das heißt, bei diesen Steuerarten steigt mit der Höhe des zu versteuernden Betrages zugleich der Steuersatz.

In liberaler Auffassung erscheint dies als höchst „ungerecht“. Liberale Politiker fordern deshalb einheitliche Steuersätze für unterschiedlich hohe Beträge. So zum Beispiel bei der Besteuerung der Einkommen. Ihr Hauptargument dabei lautet „Leistungsgerechtigkeit“.

In solidarischer Auffassung dagegen erscheint eine differenzierte Besteuerung mit integrierter Progression durchaus als „gerecht“. Ihre Vertreter fordern daher unbedingt einen progressiven Steuertarif. Die damit vorgenommene Umverteilung ist absolut gewollt und die Steuerprogression kann folglich gar nicht groß genug sein.

Zwei unterschiedliche politische Positionen, zwei gegensätzliche Steuerkonzepte mit jeweils entgegengesetzter Wirkungslogik. Welches Konzept aber ist nun gerecht? Ökonomisch lässt sich diese Frage nicht lösen, da Gerechtigkeit keine ökonomische, sondern eine moralische Kategorie ist. Praktisch wird diese Frage ohnehin politisch gelöst, machtpolitisch. Dies zeigte sich exemplarisch kurz vor Weihnachten, als die Frage einer progressiven Besteuerung großer Vermögen in Deutschland auf der Tagesordnung stand: Zwei Parteien der Regierungskoalition wollten eine solche durchsetzen, eine dritte Partei wollte dies nicht. Da offenbar aber nur diese Partei die Wahlen gewonnen hat und nun beinahe allein regiert, fiel die Frage unter den Tisch!

Bemerkenswert in diesem Kontext ist ferner: Obwohl es in Deutschland noch nie so viele und so große leistungslose Einkommen und Vermögen gab, wie gegenwärtig, gibt es keine Vermögensteuer und nur eine ineffektive Erbschaftsbesteuerung. Die Besteuerung der Einkommen hingegen erfolgt zwar nach einem progressiven Steuertarif, durch die Einziehung einer Obergrenze bleibt die tatsächliche Progression aber vergleichsweise moderat. Danach werden alle Einkommen ab 8652 Euro versteuert, wobei der Eingangssteuersatz bei 14 Prozent liegt. Bis zu einem zu versteuernden Einkommen von 254.445 Euro steigt der Steuersatz an. Ab einem Betrag von 254.446 Euro gilt jedoch der Spitzensteuersatz plus Reichensteuer von insgesamt 45 Prozent. Verdient man mehr als diese Summe, so bleibt es trotzdem bei den 45 Prozent. Auch wenn das Einkommen im Millionenbereich liegt. Kapitaleinkünfte werden demgegenüber einheitlich mit 25 Prozent besteuert. Das gilt auch für Dividendenzahlungen in Milliardenhöhe.

Das Resultat dieser von den Liberalen als „gerecht“ („leistungsgerecht“) und von den Kritikern der gegenwärtigen Ordnung als „ungerecht“ empfundenen Besteuerung ist eine rasante Zunahme der Vermögensdifferenzierung und der sozialen Spaltung der Gesellschaft. Saez und Zucman zeigen für die USA, welche verheerenden Folgen eine solche Entwicklung für das Zusammenleben letztlich hat. In Deutschland liegen die Dinge derzeit zwar noch etwas günstiger, doch im Falle der Beibehaltung der zutiefst unsolidarischen traditionellen Politik ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch hierzulande die Demokratie vollständig ausgehöhlt ist und die Gesellschaft den Charakter einer Plutokratie annimmt.

Im vorliegenden Buch wird eine Reihe vernünftiger Vorschläge unterbreitet, wie mit Hilfe einer radikalen Steuerprogression die Einkommens- und Vermögenskonzentration aufgehalten und umgekehrt werden könnte. Bei allem Respekt vor der großen Leistung der beiden Autoren bleiben aber Zweifel bestehen, ob es tatsächlich möglich ist, eine Gesellschaftstransformation über eine reformierte Besteuerung herbeizuführen. So wichtig und nützlich Steuermodelle auch sind, sie bleiben doch nur Steuermodelle. Für eine solidarische Umgestaltung der gegenwärtigen Gesellschaft aber bedarf es bedeutend komplexerer Ansätze als bloß einer gerechteren Besteuerung!

Emmanuel Saez und Gabriel Zucman: Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 279 Seiten , 11,00 Euro (Taschenbuch-Ausgabe).