25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Das Dossier des Dr. Sassmannshausen

von Stephan Wohanka

Jede in Berlin erscheinende Zeitung, die auf sich hält, veröffentlichte Leitartikel oder Feuilletonbeiträge, die das Dossier des Dr. Felix Sassmannshausen zum mittelbaren Gegenstand haben. Es geht um die Umbenennung von Straßen im Berliner Stadtraum, die Namen von des Antisemitismus Verdächtigen tragen. Blättchen-Leser dürften den einen oder anderen Text gelesen haben; ich auch. Was mich dazu brachte, nach deren Quelle, eben jenem Dossier, zu fahnden. Ich fand es schnell.

Der Leipziger Politologe Sassmannshausen handelte im Auftrag, seine Rechercheergebnisse verantwortet er allein. Im Ergebnis seiner von Mai bis Oktober 2021 andauernden Nachforschungen listet er 290 Berliner Straßen und Plätzen auf. Unter den Namensgebern ebendieser Straßen und Plätze findet sich stets ein kurzer Text mit oft knappster Begründung, warum der Genannte des Antisemitismus verdächtig sei; entsprechende Quellen sind angefügt. Dass die schonungslose Auseinandersetzung, das Zurückdrängen des Antisemitismus in all seinen Spielarten grundsätzlich aller (zivil)gesellschaftlichen und politischen Mühen wert ist, will ich nicht begründen; es ist so! Aber schon ein Überfliegen der inkriminierten Namen führt zu der Frage: Wird der Vorwurf des Antisemitismus, nicht ganz unähnlich dem des Rassismus oder auch Kolonialismus an anderer Stelle, nicht überreizt, nicht zu „großzügig“ verteilt, wodurch sich die Intention in ihr Gegenteil verkehrt?

Wie in den erwähnten Zeitungsbeiträgen zu lesen, werden im Dossier Martin Luther und Richard Wagner zu Recht des Antisemitismus bezichtigt; die Tilgung ihrer Namen wird daher empfohlen. Damit deckt der Autor nichts Neues auf; er stellt selber fest: „So ist etwa der Antisemitismus bei Richard Wagner oder der Antijudaismus bei Martin Luther breit diskutiert worden und unzweifelhaft.“ Dass dann auch ein Boraweg und eine Junker-Jörg-Straße sowie solche namens Stolzing, Rienzi oder Tannhäuser der Umbenennung anheimfallen sollten, ist mit dem Verweis auf Luther respektive Wagner für den Autor quasi selbsterklärend. (Konsequent zu Ende gedacht, gehörten da nicht alle Opern Wagners auf den Index?) Wie steht es jedoch mit anderen Namen in der insgesamt 336 großzügig bedruckte Seiten zählenden Liste? Und wer fehlt darauf?

Um mit einem anderen Großen fortzufahren, ohne den sich Deutschland desgleichen nicht denken lässt – nämlich Johann Wolfgang von Goethe: In seinem Falle genügte es Sassmannshausen festzustellen, dass „in der Forschung von einem zwiespältigen Verhältnis zu Juden und Judentum die Rede (ist). Goethe bediente in seinen Schriften antijüdische Stereotype.“ Damit kommt der gute Mann noch nicht auf die Streichliste; Sassmannshausen sieht jedoch in seiner Handlungsempfehlung „Weitere Forschung“ als angezeigt. Ich gestehe, dass ich bei Goethe nicht auf die Idee gekommen wäre, ihn der Judenfeindlichkeit zu verdächtigen. Mit dem West-östlichen Divan ist ihm neben anderen Werken ein Weltbuch gelungen, das auf Einsichten gemeinsamer universell-menschlicher Wurzeln beruht.

Aber haben wir nicht auch lernen müssen, dass ein Immanuel Kant Rassist sei, und zwar „in dem Sinne, dass er Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe pauschal herabgesetzt hat“? Wobei das noch die milderen Anschuldigungen sind. Darüber hinaus formulierte Kant nach Sassmannshausen „in seiner Religionsphilosophie einen theoretisch begründeten säkularisierten Frühantisemitismus. Darin bedient er sich antijüdischer und zum Teil frühantisemitischer Stereotype“, was zu „weiterer Recherche, Kontextualisierung“ führen sollte. Kant also auch! Da ist es doch bis Georg Wilhelm Friedrich Hegel, und was Geistesgröße und Weltgeltung angeht, bis Karl Marx nicht weit. Schauen wir nach: Hegel ist dabei! Jedoch – Marx fehlt! Wie das? Dabei genügen einige Klicks, um auch ihm Worte und Sätze nachzuweisen, die bei anderen mit Sicherheit zur „Listung“ in Sassmannshausens Kosmos geführt hätten: An seinen politischen Freund Arnold Ruge schrieb Marx, wie „widerlich“ ihm „der israelitische Glaube“ sei, und in seinem Text „Zur Judenfrage“ (1843) ist zu lesen: „Welches ist der weltliche Grund des Judenthums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Selbst „das Weib wird verschachert“. Liegt die Erklärung für die Schonung oder auch das Übersehen Marxens darin begründet, dass Sassmannshausen „vor allem Lesern der Linksaußen-Zeitung Jungle World bekannt ist“?

Ich will mir noch drei Namen detaillierter vornehmen: Thomas Mann, Maximilian Kolbe und Jürgen Fuchs. Der zu Mann „ermittelte Wissensstand“ besagt, dass er „insbesondere in seinen früheren Jahren antisemitische Motive in seinen Schriften und Aufsätzen (formuliert). In einem Streit mit Theodor Lessing bediente Mann sich offen antisemitischer Ressentiments. Allerdings wandelte er sich „im Verlauf der NS-Herrschaft zu einem Gegner des Antisemitismus“. Gehört Mann nach Sassmannshausens „Wissensstand“ in das Dossier? Einer der größten Schriftsteller deutscher Zunge, in dessen Erzählwerk wie Essayistik das „Jüdische“, die Auseinandersetzung damit eine zentrale Rolle spielt, der sich selbst mehrfach als Philosemiten bezeichnete und für die diskriminierte jüdische Minderheit eintrat und so – wie gesagt – „im Verlauf der NS-Herrschaft zu einem Gegner des Antisemitismus“ wurde, hat auf der Liste nichts zu suchen!

Zum Pater und katholischen Theologen Maximilian Kolbe (1894–1941) befindet Sassmannshausen: „Kolbe betätigte sich als Katholik im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er vertrat antisemitische Positionen. Zugleich half er Juden und Jüdinnen bei ihrer Flucht vor der NS-Verfolgung.“ Kolbe werden Sätze wie dieser vorgeworfen: „Der atheistische Kommunismus [hat] seinen Ursprung … in jener verbrecherischen Mafia …, die sich Freimaurerei nennt, und die Hand, welche all das auf ein klares Ziel lenkt, ist der internationale Zionismus.“ Ist das nicht beckmesserisch gegenüber einem Menschen, der jüdische Mitbürger rettete und sein Leben für das Leben eines anderen gab?

Zu Fuchs, dem „Schriftsteller, DDR-Bürgerrechtler, Lyriker und Psychologen“, ist zu lesen, dass er „mit Blick auf die SED-Diktatur und das Wirken der Stasi“ davon redete „sie hätten ein ,Auschwitz in den Seelen‘ zu verantworten, womit er implizit die Shoah relativierte.“ Dass ein vielleicht verbitterter, jedenfalls von der Stasi arg Drangsalierter sich bei einer Metapher vergreift – wobei solche auf den Holocaust abzielende besonders problematisch und daher besser zu unterlassen sind –; wenn also so ein Mensch sich in der Wortwahl vergreift, ist das schon Antisemitismus? Zumal er seine Worte später zurücknahm, zumindest relativierte?

Es ist vielleicht nicht ganz das „Who is who“ der deutschen Geistesgeschichte, aber neben den Genannten finden zum Beispiel Nikolaus Lenau, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Johann Gottfried Herder, Johann Gottlieb Fichte, Arthur Schopenhauer, die Gebrüder Grimm, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Friedrich Rückert und Franz Mehring Erwähnung; mit Heinrich von Treitschke – „Die Juden sind unser Unglück“ – auch ein ausgewiesener Antisemit. An politisch bedeutenderen Figuren geben sich Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Ernst Moritz Arndt, Carl von Clausewitz, Otto von Bismarck, Konrad Adenauer, aber auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Carl Friedrich Goerdeler ein Stelldichein auf Sassmannshausens Seiten. Auch Persönlichkeiten wie Karl Friedrich Schinkel, Richard Strauss sowie Wilhelm von Siemens tummeln sich dort; desgleichen Theodor Fontane, Fritz Reuter, Wilhelm Raabe, Wilhelm Busch und Wolfgang Borchert. Und neben Luther sollen auch andere religionshistorisch prägende Köpfe wie Jan Hus, Philipp Melanchthon, Erasmus von Rotterdam und Martin Niemöller antisemitisch verdächtig sein.

Abschließend unkommentiert Beispiele von Nichtdeutschen, die in der Fallsammlung aufgeführt sind: August Strindberg, Jean Sibelius, Voltaire, Lord George Gordon Byron, Jules Verne, Alfred Bernhard Nobel, Olof Palme, Pierre de Coubertin, Charles de Gaulle und Henry Ford.

Alles in allem: Die historisch-faktische Unschärfe, die das Dossier auszeichnet, kann nur bedingt – wenn überhaupt – Grundlage für ein „Wegbenennen“ (so die Journalistin Maritta Tkalec) inkriminierter Straßennamen sein. Im Umgang mit dem politisch brisanten Antisemitismus hierzulande ist Aufklärung, Sensibilität und Klarheit, jedoch keine Ambiguität vonnöten.