25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Anlehnungsbedürfnis

von Waldemar Landsberger

In der Psychoanalyse wird die „Spannung zwischen Anlehnungsbedürfnis und Autonomiebestrebung“ betrachtet. Als politisches Phänomen wurde sie bisher nicht diskutiert. Gleichwohl kann man das immer wieder aufkeimende Bedürfnis etlicher Leitungskader der Linkspartei, sich unbedingt an SPD und Grüne anzulehnen und sich ihnen koalitionär anzudienen, nicht mehr anders als psychoanalytisch interpretieren: Endlich auf der Regierungsbank sitzen! Im Jahre 2002 führte das dazu, dass die PDS über keine Bundestagsfraktion mehr verfügte. Gesine Lötzsch und Petra Pau saßen allein im Bundestag, weil sie ihre Direktmandate in Berlin gewonnen hatten, aber es keine Fraktion mehr gab, und sie wurden von dem äußerst mitfühlenden Sozialdemokraten und Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse auf Strafstühle oberhalb des eigentlichen Plenums gesetzt. Das hatte allerdings den Vorteil, dass jeder sehen konnte: Sie waren da. 2021 wäre um ein Haar dasselbe passiert, hätte nicht Sören Pellmann ein drittes Direktmandat in Leipzig gewonnen. In beiden Fällen hatten die Vorturner der Partei ohne Not den Sozen und den Grünen kurz vor dem Wahltag offen signalisiert, für eine Koalition bereitzustehen. Ohne Vorbedingungen. Wegen der herben Verluste reichte es auch diesmal nicht.

Statt das Anlehnungsbedürfnis kritisch in Frage zu stellen, wird wieder an den bisherigen außenpolitischen Positionen herumgemäkelt. Bei Themen der Sozial-, Gesundheits- und Rentenpolitik sind die Schnittmengen ohnehin unübersehbar. Als größter Hemmschuh für die ersehnte Regierungskompatibilität gilt die Außenpolitik. Die seit Jahren immer wieder wiederholte Formel lautet: Die Linke müsse Antworten finden, die „jenseits ausgedienter Freund-Feind-Bilder zu finden sind“, „altes Blockdenken“ genüge nicht mehr. Die Linke solle sich auf den Boden der NATO stellen, das „ungelöste Europa-Problem“ – meint das Einreihen in die Front der EU-Bekenner – hemme auch in sicherheitspolitischen Fragen.

Sören Pellmann war einer der Diskutanten auf der XXVII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 8. Januar 2022 in Berlin; die Zeitung junge Welt veröffentlichte am 4. Januar seinen Text zum Thema „Klare Kante gegen Krieg“. Darin betonte er, dass die Friedenspolitik eines der zentralen Essentials der Linkspartei ist, deren Position jedoch vielen Wählern nicht mehr klar sei. Auf „die ultimative Aufforderung von Seiten der Grünen, uns zur NATO ,zu bekennen‘, haben wir zu defensiv reagiert“. Die Linke hätte „offensiv für die Auflösung der NATO“ und konkret für „die Schließung des Drohnenmordstützpunkts Ramstein und den Abzug der US-Truppen aus Deutschland“ werben müssen. Dafür gibt es klare Mehrheiten in der Bevölkerung. Stattdessen seien die friedenspolitischen Positionen „kleinlaut als Ballast“ deklariert worden.

Die klare Positionierung in der Außen- und Friedenspolitik war immer Teil der Attraktivität der Linken. Die Lage nach der Wahlniederlage von 2021 erfordere „eine solche Positionierung mehr denn je“, betonte Pellmann weiter. Dazu gehöre Widerstand gegen die steigenden Rüstungsausgaben, insbesondere das Ziel, zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts zu erreichen, und gegen die Vergrößerung der Bundeswehr auf 200.000 Soldaten, gegen das neue Flottenbauprogramm, die Rüstungsexporte und die „nukleare Teilhabe“, also das deutsche Mittun an der Atomkriegsplanung und deren materielle Absicherung innerhalb der NATO. Von der Ampelkoalition ist gegenüber der bisherigen CDU-geführten Politik eine Besserung nicht zu erwarten. Dem müsse das Konzept Gemeinsamer Sicherheit gegenübergestellt werden. Die Linke sollte sich offensiv dem Vertreten „vermeintlicher Werte“ in der offiziellen Außenpolitik entgegenstellen, das nur dazu diene, „die Konfrontationspolitik gegenüber Russland und China zu legitimieren“, und auf „der Rückkehr zu einer Politik der friedlichen Koexistenz bestehen, des Dialogs und der Zusammenarbeit“.

Das Alternativprogramm wurde am selbigen Tage, ebenfalls am 4. Januar, in der Zeitung neues deutschland (nd.Der Tag) präsentiert. Wulf Gallert forderte: „Linke Außenpolitik braucht die Rückkehr zu Marx.“ Nicht zuletzt dank seines segensreichen Wirkens reduzierte sich die PDS beziehungsweise Linkspartei in Sachsen-Anhalt von 24,1 Prozent der Wählerstimmen bei den Landtagswahlen 2006 auf 11 Prozent 2021. Zur Belohnung ist er seit 2016 Vizepräsident des Landtags. Die Partei machte ihn inzwischen zum stellvertretenden Vorsitzenden ihrer Internationalen Kommission. Offenbar deshalb fühlte er sich bemüßigt, sich außenpolitisch zu artikulieren. Angesichts des Wahldebakels der Linkspartei kommt er rasch zu „den inhaltlichen Defiziten“, die er zuvörderst in der Außenpolitik ausmacht. Das Argument, die programmatischen Positionen des Erfurter Parteitags sollten unangetastet bleiben, weist er zurück, es müsse „eine den globalen Realitäten adäquate Positionierung durch die Partei“ geben. Die Übernahme von „Positionen aus der Friedensbewegung“ hält er für zu beschränkt, denn die stammten aus „den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts“.

Deklaratorisch betont Gallert, dass sich die Positionierung der Linken „weder aus der Abgrenzung noch aus der Kooperationsfähigkeit zu anderen Parteien“ ableiten sollte. Dabei soll die „Orientierung an den Menschenrechten“ nicht „Übernahme einer eurozentrischen bürgerlichen Weltsicht, sondern Ausdruck linker Identität“ sein. Das ist im Prinzip richtig, aber die Frage ist, was politisch daraus folgt. „Moskau“ unterstellt er „eiskalte Machtlogik“, zu Chinas Umgang mit Oppositionellen in Hongkong und den Uiguren dürfe die Linke „nicht schweigen“, auch wenn sich Gallert nicht in die Kalte-Kriegspolitik der USA gegen China einreihen möchte. Die „Methoden Maduros“ in Venezuela will er nicht akzeptieren und Opposition in Kuba sei nicht unbedingt „US-amerikanische Konterrevolution“. Am Ende reibt sich der verwunderte Leser die Augen: Das soll der „Kooperationsfähigkeit“ mit den anderen Parteien nicht dienen, passt aber ganz zufällig genau dazu.

Der Bezug auf Marx ist Etikettenschwindel. Gallert erinnert zwar an den berühmten Satz: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Seine Rabulistik zur Außenpolitik aber hat mit Marxscher Analyse rein gar nichts zu tun, das ist nicht Rückkehr zu, sondern Abkehr von Marx. Den Begriff „friedliche Koexistenz“ scheint er nicht zu kennen.