Was ist ein ausländischer Agent? Ist es nicht ein Spion? Derjenige, der herumläuft und uns verrät und unser Leben ruiniert“, fragt Lija Achedschakowa in den Zuschauerraum des Moskauer Wachtangow-Theaters. In dieser zweiten Dezemberwoche werden dort die „Sterne des Theaters“ gefeiert. Doch die kleine energische 83-Jährige ist voller Zorn. Ausgerechnet die Besten würden als „ausländische Agenten“ bezeichnet. Ihr Freund Lew Ponomarjow, Begründer der 2019 vom Obersten Gericht aufgelösten Organisation „Für Menschenrechte“ solle einer sein, der Fernsehsender „Doschd“, „der uns nie betrügt“, und das Wichtigste: „unser Memorial“. Der von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow Ende der 80er Jahre mitbegründeten und geführten Organisation wird in diesen Tagen der Prozess gemacht. Der Vorwurf lautet, Abteilungen von Memorial hätten wiederholt das ihnen per Gesetz aufgezwungene Brandzeichen „ausländischer Agent“ ignoriert.
Vor mir liegt die Kopie eines Briefes, der an eben dieses Memorial adressiert ist. Er trägt mit dem 14. Oktober 1988 ein Datum des Gründungsjahrs der Organisation und ist unterzeichnet von Anni Sauer. Erhalten haben wir die vier Seiten des handschriftlichen Dokuments von der damals 83-Jährigen an einem langen Winterabend im Februar 1989 in unserer Moskauer Korrespondenten-Wohnung. Bis tief in die Nacht berichtete uns die jüdische deutsche Kommunistin von ihrem Widerstand gegen den Faschismus, der Flucht nach Frankreich und der Aufnahme in der Sowjetunion. Deren Staatsbürgerin wurde sie. Mit großem Erfolg gestaltete die am Choreographischen Institut Rudolf von Labans ausgebildete Tanzpädagogin einen Auftritt von 300 Kindern auf dem Roten Platz bei einer Gegenparade zu den Olympischen Spielen 1936 im faschistischen Deutschland. Rettung Exil?
Nein, Ankunft im Großen Terror Stalins. „In später Nacht zum 7. September 1937 hat man mich aus dem Quartier meiner Freunde, bei denen ich wohnte – am Arbat – abgeholt und auf die ‚Lubjanka‘ gebracht“, schreibt sie an Memorial. „… nachts wurden wir zum Verhör geholt und oft sehr gequält“. Zu acht Jahren Lagerhaft mit schwerer Arbeit wegen „Spionage“ verurteilt, gerät sie „in einem Viehwaggon mit vielen anderen“ in das weite Nirgendwo der kasachischen Hungersteppe – KARLag. Das Lager bauen sich die Gefangenen selbst. „Drei Wochen haben wir in der Steppe einen Brunnen gegraben“, erzählt sie. „Ich war die Kleinste und wurde an einem Seil immer tiefer gelassen. Als wir auf Wasser stießen, war es salzig.“ Fast 18 Jahre wird Anni Sauer, deren Strafe auf lebenslänglich verlängert wurde, als „Gefangene Nr. 154668“ im GULag und in der Verbannung verbringen – „6tausend 405 Tage“.
1955 wird Anni Sauer endlich erlaubt, nach Moskau zu reisen und bei Freunden ihre Rehabilitierung abzuwarten. Neun Monate verbringt sie dort „vollkommen ohne Kräfte, im stärksten Maße unterernährt“ in einem Krankenhaus. Niemand habe geglaubt, dass sie überleben werde. Doch großartige Ärzte und Schwestern, gute Menschen, werde sie niemals vergessen.
Zurück in der Heimat wäre Anni Sauer in der DDR aber doch fast zugrunde gegangen, weil ihr striktes Schweigen über das eigene Schicksal verordnet worden war. Auf Leben und Tod in einem Berliner Krankenhaus bat eine Ärztin schließlich eindringlich: „Wenn sie mir nicht sagen, was mit ihnen passiert ist, kann ich sie nicht behandeln, und sie werden sterben.“ An unserem Abend in Moskau berichtet Anni, dass sie dann doch gesprochen habe. „Als ich fertig war, liefen der Ärztin Tränen über das Gesicht.“
In ihrem Brief an Memorial wünschte sich Anni Sauer, noch bis zu dem Tag zu leben, da in Moskau das Denkmal für die Opfer des Stalinismus eingeweiht werde. Dafür hat sie gespendet. Doch wenige Monate später stirbt sie. Später übergibt uns eine russische Historikerin in mühevoller Arbeit zusammengestellte Namenslisten der am Rande Moskaus auf dem Friedhof Butowo beigesetzten Opfer der Mordmaschinerie Stalins zur Veröffentlichung für Neues Deutschland. Auf den Listen, die mehrere Zeitungsseiten füllen, finden wir auch den Namen von Annis Bruder. Fritz Sauer, Wissenschaftler am Marx-Engels-Lenin-Institut. Erschossen am 28. Mai 1938.
Es sind solche Erinnerungen, um die sich Memorial kümmert. Auch um verwilderte Überreste des GULags, der Zwangs- und Arbeitslager, in denen Millionen Menschen starben. Zu fast vergessenen Inseln im sibirischen Perm fahren Jahrzehnte später auf Exkursionen von Memorial junge Leute in Schlauchbooten, um Grabstätten zu pflegen, Ziffern durch Namen zu ersetzen, ein Hinweisschild oder auch ein Kreuz aufzurichten. Doch sind das eher unerwünschte Erinnerungen und Taten. Warum sonst würde das örtliche Memorial eines Holzdiebstahls beschuldigt, nachdem es einen Waldfriedhof aufgeräumt hatte? Warum sonst wird der Organisation das Schandmal „ausländischer Agent“ aufgebrannt? Mieser als „Spion“ kann in diesem Land mit dieser Geschichte und in diesem Zusammenhang kaum eine Beschuldigung sein.
Als Ziele von Memorial international führt die Staatsanwaltschaft in ihrem Antrag auf Auflösung der Organisation an: „Schaffung einer politischen Kultur, die auf den Werten der Demokratie und des Rechts basiert; historische Aufklärung, Erinnerung an die Opfer von politischer Verfolgungen durch totalitäre Regime; Untersuchung, Veröffentlichung und kritische Reflexion der Menschenrechtsverletzungen durch totalitäre Regime in der Vergangenheit sowie der direkten und indirekten Folgen in der Gegenwart u. a.“ Die Anklage lautet, Memorial habe als eine auch aus dem Ausland finanzierte Organisation vorsätzlich gegen die Pflicht zur Kennzeichnung als „ausländischer Agent“ verstoßen. Geradezu absurd wirkt der Vorwurf, es sei damit auch gegen „internationale Rechtsakte verstoßen“ wie die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Weitere Verhandlungstage sollen der 23. und der 28. Dezember sein.
Es wäre ein denkwürdiger Tag, an dem die älteste und bedeutendste Menschenrechtsorganisation Russlands aus der politischen Arena verbannt wird. Mit der Aufarbeitung der Verbrechen der Stalinzeit, als unbequemer Mahner zur Durchsetzung von Menschenrechten – auch im Tschetschenien-Krieg – und mit dem Einsatz für Oppositionelle haben sich Memorial international und das Menschenrechtszentrum bis in höchste Kreise unbeliebt gemacht.
Präsident Wladimir Putin war sich nicht zu schade, Memorial mitten im laufenden Verfahren zu beschuldigen, dass es sich für Terroristen und Extremisten einsetze. Es würden sogar drei Personen als Opfer des politischen Terrors in der Sowjetunion ausgewiesen, die im Zweiten Weltkrieg an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen seien. Die Menschenrechtler hatten die Einträge in der mehr als drei Millionen Namen zählenden Datenbank allerdings schon drei Monate zuvor gelöscht. Putin hätte sich auch direkt an sie wenden können, meinte Memorial.
Doch diese Organisation deckt die dunklen Seiten der Vergangenheit und auch solche der Gegenwart auf. Die Führung im Kreml hingegen beschwört die national-patriotische Einheit des Volkes, den Ruhm als Sieger im Großen Vaterländischen Krieg. Putin verordne dem Land ein Geschichtsbild, analysierte Theo Sommer in der Zeit, „in dem Peter der Große, der Reformer Pjotr Stolypin, Josef Stalin und er selbst als Diener und Wahrer russischer Größe ein patriotisches Kontinuum bilden“. Russland sieht dessen Führung bedroht, eingekreist durch eine feindliche (westliche) Welt. Da soll das Volk nicht durch Teilung in Rote und Weiße, in Freund und Feind geschwächt werden.
Mehr als die Hälfte der Russen (56 Prozent) stimmen eher oder voll und ganz zu, dass „Stalin ein großer Führer war“, ermittelten die unabhängigen Meinungsforscher des Lewada-Instituts im Juni 2021. Mit 45 Prozent überwiege gerade in den letzten Jahren gewachsener Respekt. Alexej Lewinson, Leiter der Abteilung soziokulturellen Forschung, führt das auch darauf zurück, dass „die symbolische Identifikation mit der Sowjetunion während der Putin-Ära sehr gefördert wird“. Im Jahre 2017, also 80 Jahre nach dem Großen Terror, erfragte das Institut WZIOM, dass 62 Prozent – mehr als die Hälfte der Russen – der Meinung seien, Gedenktafeln, Büsten, Bilder, die von den Erfolgen Stalins erzählen, sollten an öffentlichen Plätzen aufgestellt werden. Zugleich seien 65 Prozent der Bürger gegen die Aufstellung von Tafeln, die über seine Misserfolge und Verbrechen informieren. 22 Prozent seien der Meinung, dass sich so etwas negativ auf das Image des Landes auswirke.
Wer sich der Aufklärung über die stalinistischen Repressionen widmet, hat einen schweren Stand. Doch die Attacke auf Memorial bleibt nicht unwidersprochen. Vor dem Gerichtsgebäude ein Protestplakat: „Das Gedächtnis des Volkes lässt sich nicht töten!“ Mehr als 180.000 Menschen im In- und Ausland haben in nur wenigen Wochen die Petition „Hände weg von ‚Memorial‘“ unterzeichnet.
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