Die Deutsche Oper Berlin hatte es schwer mit ihrer Neuinszenierung von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“. Nötig war sie, die legendäre Götz-Friedrich-Inszenierung stammt aus dem Jahre 1984. Eigentlich hat das für die Oper nicht unbedingt etwas zu sagen. Am Moskauer Bolschoi sah ich nach 2000 eine Rimski-Korsakow-Inszenierung aus dem Jahre 1909. Aber das war ein Märchenstück, und der „Ring“ ist – trotz der konstruierten Wagnerschen Altertümelei – nachgerade das Gegenteil. Die Zuschauer nahmen und nehmen ihn zu allen Zeiten immer als sehr zeitgenössisch. Das erklärt die Aufgeregtheit um jede, aber auch jede Neuinszenierung. Und 1989/90 änderten sich die Rezeptionsbedingungen in Deutschland grundlegend.
Jetzt grätschte Corona dem Haus an der Bismarckstraße in die „Ring“-Planungen. Zwei „Rheingold“-Projekte waren die Folge, zwischen beiden am 27. September 2020 eine – wie ich finde misslungene – „Walküre“ , am 17. Oktober 2021 die „Götterdämmerung“ und schließlich am 12. November 2021 „Siegfried“. Chaotischer geht es kaum. Intendant Dietmar Schwarz muss starke Nerven haben. Respekt!
Jetzt ist der „Ring“ tatsächlich geschlossen. Die Inszenierung Stefan Herheims ist ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk. Das Orchester unter Sir Donald Runnicles läuft zu Hochform auf – die „Götterdämmerung“ ist musikalisch atemberaubend! Und ein Hoch der Lichtregie von Ulrich Niepel!
*
Aber bleiben wir in der Wagnerschen Reihung. Also „Siegfried“. Hier öffnet sich mit den ersten Takten des Vorspiels der Blick auf eine düstere Landschaft, durch die Alberich ruhelos umherirrt. Haben die Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt, entpuppt sich die düstere Fels-Landschaft als Koffergebirge. Das Herz krampft leicht, nicht schon wieder … Richard Wagners Vorspiele geben inszenatorischen Ideen viel Spielraum. Das wäre gut, meinte eine Wagner-Enthusiastin zu mir in der Pause, schließlich müsse man etwas haben, worüber man sich aufregen könne. Ohne Aufregen wäre doch kein „Ring“ etwas wert. Wo denn die Schlüpper blieben? Ich konnte sie beruhigen, die würden sicher noch kommen.
Bei Herheim muss man wählen, erst das – gut gemachte! – Programmheft lesen, um alle Einfälle des Meisters richtig zu verstehen oder erst schauen und hören und dann lesen? Nach „Rheingold“ und der „Walküre“ habe ich mich zu Letzterem entschieden. Es war eine richtige Entscheidung. Darüber, dass Alberich (Jordan Shanahan) auf Steven Kings Film-Clown Pennywise („Es“) geschminkt wurde, muss man nicht weiter nachdenken. Er ist einfach das Böse und nur das Böse. Der ist so böse, dass er sogar den von Brünnhilde am Ende der Tetralogie herbeigeführten Weltuntergang überlebt. Jedenfalls bei Stefan Herheim.
Die Koffer bleiben Gebirge. Über das tobt Jung-Siegfried (Clay Hilley) – „Hoiho! Hoiho! / Hau‘ ein! Hau‘ ein! Friß ihn!“ –, und hetzt einen Bären in Richtung Mimes Schmiede. Der Bär sieht wie Alberich aus. Kein Wunder, wenn Mime (Ya-Chung Huang) von Angstkrämpfen befallen wird. Mime indes buhlt aus durchsichtigen Gründen um die Liebe seines Zieh-Sohnes („Liebe ist das Verlangen“), verzweifelt zugleich an seiner Unfähigkeit, das zerbrochene Schwert Siegmunds zu reparieren. Siegfried kontert mit aller Arroganz, zu der Jugend fähig ist. Zudem hat er Zweifel an Mimes Vaterschaft. Er sah sein Spiegelbild in einem Bache und findet sich dem Zwerge so gar nicht ähnlich.
Das Ganze wird von Herheim mit hinreißender Komik inszeniert und von seinen Protagonisten großartig umgesetzt. Spätestens beim Neuschmieden Nothungs – Siegfried kommt auf die Idee, die Trümmerstücke einfach einzuschmelzen, anstatt sich mit sinnloser Flickschmiederei herumzuärgern – übernimmt Clay Hilley die Herrschaft im Klangraum des Hauses und gibt sie bis zum Schlussvorhang nicht wieder ab. „Nothung! Nothung! Neidliches Schwert“ – Orchester und Sänger scheinen sich wechselseitig anzutreiben. Großartig!
Klar doch, jetzt muss Fafner, der zum Drachen mutierte Riese, getötet werden. Diese Geschichte gehört zur deutschen mentalen Grundausstattung in Sachen Mythologie. So manche „Siegfried“-Inszenierung durchbrach an der Stelle die Leitplanke zur Lächerlichkeit. Stefan Herheim und Silke Bauer entgehen dieser Gefahr mit ihrer Drachenerfindung. Siegfried tötet den Fafner (Tobias Kehrer), ignoriert natürlich dessen Warnungen und macht sich auf die Suche nach der rätselhaften Frau hinter dem Feuervorhang.
Einen großen Auftritt hat die rumänische Mezzosopranistin Judit Kutasi als Erda. Wotan („Der Wanderer“, Iain Petersen) weckt sie aus ihrem Schlaf, will wissen, wie er sein nahendes Ende abwehren kann – Erdas Antwort passt ihm nicht. Er erwürgt die arme Frau, mit der er einst Brünnhilde gezeugt hatte. Siegfried zerschlägt ihm schließlich im Zweikampf den Speer und beendet damit die Macht des eigenen Großvaters. Der geht in die Seitenbühne ab und spielt fortan nur noch als Dekorationsbestandteil eine Rolle.
Das ist alles sehr heutig: das politische Handeln auf Teufel komm raus ohne Folgenabschätzung, die vertrackte Neigung zur Gewalt als zuverlässigstem Problemlösungsmittel, das Negieren jeden Rates, der nicht in das eigene monokausale Weltbild passt … Das ist der rote Faden, der sich durch Stefan Herheims Inszenierung zieht. Das andere, die übervielen in den Programmheften argumentierten Ideen, sind Beigabe. Manche davon zutiefst überflüssig bis peinlich.
Man kann sich ja über die Schlussszene des 3. Aufzuges streiten: Siegfried durchbricht Loges Feuerzauber und entdeckt einen schlafenden Helden auf einem Flügel. Dem Helden nimmt der Held die Rüstung vom Leibe und entdeckt nie Gesehenes: eine Frau! Es ist Brünnhilde (Nina Stemme). Nach einigem Hin und Her, Siegfried ist in Liebesdingen tapsig-unerfahren – sie will eigentlich auch nicht, singt sie jedenfalls –, gibt sich Brünnhilde „dem seligen Taumel menschlicher Liebe hin“.
So kitschig formuliert es das Programmheft. Zu sehen ist eine Vergewaltigung. Siegfried kann nicht anders. Er wird das in der „Götterdämmerung“ wiederholen. Dennoch bieten Nina Stemme und Clay Hilley trotz der Wagnerschen Ungereimtheiten im Libretto eine zu Herzen gehende Liebesszene! Vorhang! Nein, noch nicht. Wir müssen erst noch ertragen, dass sich auch die „Flüchtlinge“, die uns schon in der „Walküre“ Interpretationsnöte bereiteten, die Klamotten vom Leibe reißen und ihrerseits die Verschmelzung des Paares auf dem Klavier mit einer Orgie in Feinripp abfeiern.
Warum hat Dramaturgie sich hier derart bedingungslos der Regie unterworfen? Auf jeden Fall kam meine Pausengesprächspartnerin doch noch auf ihre Kosten.
*
Es ist jetzt nur noch die Prophezeiung aus dem „Rheingold“, der vollständige Untergang der Götterwelt, einzulösen. Das Vorspiel der „Götterdämmerung“ passiert wie beim Goethe „auf dem Theater“, hier im Foyer des Hauses. Wir können sitzen bleiben. Es ist auf der Bühne nachgebaut. Schöne Menschen schlürfen ihr Sektchen, da erscheinen urplötzlich die drei Nornen und berichten von Wotans letzter Untat, dem Fällen der Weltesche, die er zuvor mit dem Raub des Holzes für den Schaft seines Speeres zum Absterben brachte. Das wird von den Sängerinnen mit atemberaubender Kraft dargebracht. Vollkommene Stille im Saal. Der Faden des Schicksals ist gerissen, es muss seinen Lauf nehmen.
Siegfried, von Brünnhild zu Heldentaten ermuntert, bricht zu König Gunthers Hof auf. Gunther (Thomas Lehmann) und Schwester Gutrune (Aile Asszonyi) sind unverheiratet. Halbbruder Hagen (Albert Pesendorfer) auch. Hagen ist das Ergebnis der Verführung der Mutter der Geschwister durch den Giftzwerg Alberich, der noch immer auf Rache an Wotan und seiner Brut sowie nach dem Ringe giert. Dank seines Zaubertrankes vergisst Siegfried Brünnhilde, verschafft diese jedoch mittels Tarnkappe dem Gunther (zweite Vergewaltigung der Armen, die den Grobian noch immer liebt).
Der Rest ist von Wagner konsequent durchkomponierter Nibelungenmythos. In jeder Partie gut besetzt, aber herausragend ist hier mit jedem Einsatz Nina Stemme! Die Schwedin – sie hatte einst Betriebs- und Volkswirtschaft studiert, geriet dann aber glücklicherweise auf Abwege … – beherrscht die „Götterdämmerung“ souverän. Nur im Ersten Aufzug gelingt Okka von der Damerau beinahe ein sängerisches Pari-Pari. Von der Damerau gibt die Walkürenschwester Waltraute. Die will Brünnhilde überzeugen, den Ring an die Rheintöchter zurückzugeben. Nur das könne kommendes Unheil verhindern. Ein großes Duett! Brünnhilde weigert sich. Der Ring ist Siegfrieds Liebespfand …
Der Untergang dieser gewaltgeprägten Welt ist zwangsläufig und wird kongenial inszeniert.
Standing ovations! Berlin hat wieder einen „Ring“. Und zwar einen insgesamt großartigen!
Der komplette „Ring“ wieder am 4., 5., 7. und 9. Januar 2022.
Schlagwörter: Der Ring des Nibelungen, Deutsche Oper Berlin, Stefan Herheim, Wolfgang Brauer