25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Daniil Granin: „Mein Leutnant“

von Alfons Markuske

Interessant wäre, wie es um den Ruf
einiger ruhmreicher Marschälle stehen würde,
wenn man ihnen die Gefallenen angerechnet hätte.

(Daniil Granin, Mein Leutnant)

Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion (1941 bis 1945) gegen Hitlerdeutschland und die von seinen Vasallen – von Italien und Rumänien über Ungarn, Finnland, die Slowakei bis Spanien – an die Ostfront abgeordneten Militärkontingente war in seiner historischen und künstlerischen Darstellung in der UdSSR wie auch in der DDR ein einziges Heldenepos, und er ist es in Russland bis heute. Daniil Granin, sowjetischer Frontsoldat von 1941 bis 1945 – davon längere Zeit im von der deutschen Wehrmacht eingeschlossenen Leningrad, wo infolge der Blockade etwa 1,1 Millionen Einwohner verhungerten –, konfrontiert in seinem letzten Buch, „Mein Leutnant“, in dem er wenige Jahre vor seinem Tod seine Kriegserinnerungen zu Papier brachte, den Mythos mit der von ihm erlebten und erlittenen Realität: „Überall hat man einen uns fremden Krieg mit glänzenden Operationen, mit mutigen Kämpfern beschrieben. Aber unser Krieg war anders – blutig, stümperhaft, Menschenleben wurden sinnlos geopfert, doch das zeigte man nicht, darüber schrieb man nicht.“

Nach einschlägigen Quellen schlug der Zweite Weltkrieg aufseiten Deutschlands mit insgesamt 5,3 Millionen Gefallenen der Wehrmacht und anderer bewaffneter Formationen zu Buche, aufseiten der Sowjetunion jedoch mit bis zu 11,4 Millionen toten Militärangehörigen, wovon etwa drei Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft dem vorsätzlichen Hungertod preisgegeben wurden.

Wer nach Ursachen für die Diskrepanz in diesen Kriegsopferzahlen fragt, der findet in Granins „Mein Leutnant“ Antworten.

Der Schriftsteller bedient sich dabei des Kunstgriffs, seinem Leutnant, der er samt dessen jugendlicher Naivität und Überzeugungen während des Vaterländischen Krieges gewesen war, Erkenntnisse und Auffassungen gegenüberzustellen, zu denen der Autor in den Nachkriegsjahrzehnten gelangt ist: „Mein Leutnant schätzte Stalin, ich nicht; er begeisterte sich für Shukow, mir lag Shukows Grausamkeit nicht und dass er unnötig so viele Soldaten geopfert hatte […]. Wir waren zu verschieden und einander ziemlich fremd geworden, verstanden uns kaum noch.“

Diese Entfremdung hatte zuvorderst darin ihre Ursache, dass der Kriegsfreiwillige der Volkswehr, der wie zig-Tausende aus Mangel an Material ohne eigene Waffe an die Front ausgerückt war und der erst im Verlaufe des Krieges zum Leutnant befördert wurde, von den Hintergründen des faschistischen Überfalls auf die UdSSR am 22. Juni 1941 und den unvorstellbaren sowjetischen Verlusten nicht nur in der Anfangszeit nicht ahnen konnte, was heute darüber bekannt ist: „Es konnte keine Rede davon sein, dass man den Überfall nicht erwartet hatte, denn Stalin war von Sommer 1940 bis Ende 1940 immer wieder darüber informiert worden, dass Deutschland die UdSSR angreifen würde. Man teilte ihm die Anzahl der Divisionen der Wehrmacht an der sowjetischen Grenze mit – achtzig, später noch einmal vierzig. Von überallher kamen Hinweise. Man gab ein genaues Datum des Überfalls an: 20. – 22. Juni 1941. […] Sowohl der Generalstab als auch die Kommandierenden der Militärbezirke hatten den Krieg täglich erwartet, aber nicht gewagt, etwas zu unternehmen.“ Denn Stalin selbst hatte jede aktive Verteidigungsvorbereitung untersagt. Nur für ihn kam der Überfall unerwartet. Und warum? „Er, Stalin, hatte sich nicht vorstellen können, dass Hitler ihn zu überlisten vermochte, sich als klüger erweisen würde als der geniale Prophet – das war undenkbar. Man kann also sagen, dass Stalin Opfer seines eigenen Kults wurde.“

Zur besonderen Tragik dieser Entwicklung vermerkt Granin: „Ein halbes Jahrhundert später veröffentlichten Historiker Fakten, die zeigen, dass die Rote Armee zu Beginn des Krieges dreimal mehr Panzer und zweieinhalbmal mehr Flugzeuge hatte als die Deutschen. Die Rote Armee bestand aus 180 Divisionen. Damit hätte man den Deutschen eins auf die Fresse geben und sie bis nach Berlin zurückjagen können, ohne auf die zweite Front zu warten.“ Stattdessen jedoch: „In den ersten drei Wochen verlor die Rote Armee achtundzwanzig Divisionen und die Hälfte des Bestandes von weiteren siebzig Divisionen. Es gab faktisch keine Rote Armee mehr.“

Schließlich doch gestoppt und dann bis zur deutschen Hauptstadt zurückgeworfen wurde die faschistische Kriegswalze unter unvorstellbaren Menschenopfern: „Selbst als wir gegen Ende des Krieges gelernt hatten, wie man Krieg führt, fuhren wir fort, unsere Leute ohne Ende zu verheizen. Gut kämpft nur einer, der wenig Blut vergießt. Das wussten alle, aber es zählte nicht, oben zählte es nicht, und das setzte sich nach unten fort. Wenn etwas zählte, dann nur, wie viele gegnerische Panzer verbrannt waren und wie viele Kilometer wir vorangekommen waren. Die Kommandierenden wurden nicht nach der Anzahl der Gefallenen eingeschätzt.“ Die Folge war: „Die Verluste störten niemanden, zumindest nicht unsere wackeren Vorgesetzten, die jeden Befehl befolgten und nie widersprachen. Kein Preis war ihnen zu hoch. Man kämpfte sich bis zu den Stacheldrahtverhauen der Deutschen durch. Dort stellte sich raus, dass man nichts hatte, womit man den Stacheldraht hätte durchschneiden können. Keine Drahtscheren. Der Befehl verlangte es – um jeden Preis. Der Angriff sollte um fünf Uhr morgens beginnen, aber es zeigte sich – niemand hatte eine Uhr.“

Granins mehr als ernüchterndes Fazit: „Warum sind sie so mit uns umgegangen, und warum tun sie es bis heute? Weil es von uns immer genug gegeben hat. Morgen schicken sie Sibirier, dann Uraler, dann Kasachen. Nicht mit Menschen muss man sparsam umgehen, sondern mit Munition.“

Mit einer solchen Einstellung korrespondierte der Nachkriegsumgang des sowjetischen Staats- und Parteiapparates mit jenen überlebenden Militärangehörigen, denen der Sieg ihre Gesundheit geraubt hatte: „Was bekamen die Kriegsinvaliden vom Staat? Eine kärgliche Rente, das war alles. Außerdem waren sie verpflichtet, jedes Jahr vor einer Kommission zu erscheinen, um zu zeigen, dass die amputierte Hand noch nicht nachgewachsen war.“

Und übrigens: „Nach Kriegsende wurden die Zahlen der Gefallenen, Verwundeten und in Gefangenschaft Geratenen geheim gehalten. In der Enzyklopädie des Großen Vaterländischen Krieges gab es das Wort Verlust nicht. Nach dieser Enzyklopädie zu urteilen, hat es im Großen Vaterländischen Krieg keine Verluste gegeben.“

Daniil Granin: Mein Leutnant, Übersetzung Jekatherina Lebedewa, aufbau taschenbuch, Berlin 2016, 329 Seiten, 12,99 Euro.