Vor 190 Jahren, am 16. November 1831, starb der große preußisch-deutsche Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz (1780–1831) an der Pandemie seiner Zeit, der Cholera. Treten wir Heutigen aus Anlass seines Todestages mit ihm und seinem theoretischen Werk in Dialog, so gelangt man auch jetzt noch zu neuen Gedanken über unsere Zeit. Das ist nicht verwunderlich. Denn Clausewitz war kein Vertreter des sturen preußischen Kommiss‘, sondern ein Repräsentant derjenigen Kräfte, die durch gesellschaftliche Reformen dem Fortschritt auch in Preußen zum Durchbruch verhelfen wollten. Er war der Reformer (Stein, Gneisenau, Scharnhorst und anderer) theoretischer Geist auf dem Gebiet der Theorie des Krieges.
Sein theoretisches Hauptwerk „Vom Kriege“, in dem er es sich zur Aufgabe gestellt hat, den Krieg in seinem ihm eigenen, inneren Wesen und letztlich in der Totalität seiner Momente zu bestimmen, enthält die herausragendsten Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit.
Viele kennen aus diesem Werk die Formulierung: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln!“ Sie ist wie ein Werbeslogan in unserem Zeitgeist verankert.
Interessant und aktuell sind die in seinen politischen Schriften enthaltenen Reflexionen. Hier finden wir Begriffe wie Patriotismus, Heimatliebe, Vaterland, Balance, Reform oder Revolution, die von Clausewitz zu Zeiten der Befreiungskriege (1812/15) nachhaltig genutzt wurden. Es scheint durchaus lohnend diese dahingehend zu prüfen wie zu hinterfragen, ob sie auch in unserer Zeit noch konstitutive Kraft vermitteln können.
Als Patriot und wacher Zeitzeuge betont er stets zwei Dinge: Patriotismus und Vaterlandsliebe. Mögen sie konservativ-liberal, wie von ihm damals begriffen, oder heute liberal mit Blick auf Europa gedacht sein, Clausewitz verband sie mit einer Art kategorischen Imperativ, den er in die Formel kleidet: „Eine Stellung mit dem Fuße auf dem Nacken eines anderen ist meinen Empfindungen zuwider.“
Hinzu kommt, Clausewitz charakterisiert, in Anlehnung an die Losung Weltfrieden durch Welthandel, den ungehinderten Handel als Moment des Gleichgewichts. Wird dieser durch eine Macht behindert oder sogar bewusst von einer Macht nur im eigenen Interesse betrieben, dann sieht er das Gleichgewicht grundlegend in Frage gestellt. So sei es gewesen, als „der Kaiser von Frankreich den Handel sperrte“; Russland und England konnten das nicht hinnehmen und genau deshalb sei ein plötzliches Zusammenfallen aller Verhältnisse eingeleitet worden. Bemerkenswert wie nachdenkenswert für unsere Zeit ist dies schon. Denn europäische Politik ist heute nur allzu schnell mit selbstgefälligen Sanktionen zur Hand. Erinnert sei an die, auch von Teilen der deutschen Wirtschaft mit ablehnender Distanz betrachteten, Russland-Sanktionen.
Clausewitz denkt genau entgegengesetzt zur augenblicklich praktizierten deutschen und europäischen Außenpolitik! Hatte er doch mit der Kontinentalsperre ein plastisches, abschreckendes Beispiel erlebt, was den Kontinent eben nicht befrieden ließ!
Heute sind es vor allem Bürgerkriege, Glaubenskriege sowie Kriege, die auf die Änderung der politischen Ordnung in einem Land abzielen. Der Westen, die UNO oder andere Nationen und deren Streitkräfte agieren im Gefolge einer derartigen Entwicklung als Friedensstifter beziehungsweise Friedenssicherer, Unterstützer sogenannter legitimer Regierungen, Schutzeinheiten für die Zivilbevölkerung, als Terrorismus-Bekämpfer oder als Kampfeinheiten, die davor schützen sollen, dass marodierenden, nichtstaatlichen Kriegern Massenvernichtungswaffen in die Hände fallen. Sind die herbeigerufenen oder mit internationalem Mandat entsandten Truppen erst einmal in die Konflikte oder Kriege eingebunden, kommt es eher zu einer Verlängerung als zu einer Verkürzung der Konfliktdauer oder gar Beendigung. Würde Clausewitz mit seinem scharfen analytischen Verstand auf nur einige der gegenwärtigen Konflikte schauen, wäre er über die fehlende oder zumindest nicht wahrnehmbare Zielfokussierung der jeweiligen Militäraktionen oftmals entsetzt. Erinnert sei hier an seine klare Botschaft: „Das Ziel des Krieges sollte nach seinem Begriff stets die Niederwerfung des Gegners sein.“ Diesen Gedanken, in die Gegenwart transformiert und nur auf einige der auch von deutschen Truppen getragenen, gestalteten oder sogar durchlittenen Konflikte übertragen, fällt es außerordentlich schwer, eine stringente Zielstellung zu erkennen. Oft ist noch nicht einmal der Hauptgegner oder Hauptfeind klar bestimmt. Das Einsatzgebiet der Bundeswehr umfasst gegenwärtig, jetzt, wo der Afghanistaneinsatz gerade „zu seinem Ende gegangen ist“, zehn Staaten oder Gebiete. Dauer, die zeitlichen Dimensionen in den jeweiligen Operationsgebieten sind oft unklar. Sieht man sich dazu noch die politisch kommunizierte Bestimmung des zu erwartenden Kampf- oder Kriegsgegners an, so ist diese verschwommen, unbestimmt, geradezu fahrlässig unkonkret. Mit Clausewitz muss man sagen, dass die Einsatzorte der Bundeswehr im „Gebiet der Ungewissheit“ oder, wie der Kriegsphilosoph näher bestimmt, „im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit“ liegen. Unübersichtlichkeit der Lage im Einsatzgebiet, die oftmals unklare Kräftekonstellation, tragen dazu ihren Teil bei. Die politischen oder politisch-religiös motivierten Gruppierungen, die in den Konflikten oder Kriegen involviert sind, handeln zumeist verdeckt, selten offen. Grenzen verschwimmen situativ. Es läuft clausewitzschem Denken zuwider, wenn Ganzheitlichkeit politischer Strategie nicht deutlich wird. Oftmals wird unterschätzt, inwieweit die Konflikt- und Kriegsdynamik bereits von Bevölkerungsmehrheiten in den jeweiligen Ländern getragen ist. Gerade bei Auseinandersetzungen, die von großen religiösen Gruppen geführt werden, besteht schnell die Tendenz, dass die Entwicklungen sich dramatisch zum Äußersten treiben.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma sehen Militärs der USA, Chinas, Russlands, aber auch der NATO in einer intensiven Nutzung der sogenannten „Revolution in Military Affairs“. Der Grundgedanke dahinter ist – Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt und schlägt Mensch auf den Schlachtfeldern.
Natürlich ist es für Regierungen und Parlamente verlockend, durch in den Kriegen eingesetzte KI eigene Soldaten „einzusparen“. Statt Bodentruppen, also die Kriegsressource Mensch, zu schicken und deren Verluste im Krieg einzuplanen, sollen künftig nur Roboter, sprich ein Haufen Metall, in Konfliktgebiete entsandt werden und dann auch noch siegreich sein. Das Idealziel bei der Anwendung von KI in einem künftigen Krieg ist schließlich, dass die Kampfmaschinen, nach einer gewissen Zeit, die Erledigung der dreckigen, gefährlichen und manchmal gar langweiligen „Arbeit“ melden. Es erhebt sich die Frage, ob die angestrebten, mit der KI verbundenen „Neuen Waffen“ wie Roboter, Mikroroboter oder Energiewaffen mit den immerhin offiziell noch anerkannten Normen des Völkerrechts in Einklang zu bringen sind.
Mit der Problemstellung wird gleich der Ausweg gedacht. Die sogenannten Roboter-Soldaten könne man so programmieren, dass sie das Völkerrecht, die Haager Landkriegsordnung oder aber die Genfer Konvention nicht nur einhalten, sondern dass sie weitaus normgerechter als normale Soldaten im Krieg agieren. Man müsse sie so programmieren, dass sie keine Verbrechen an Zivilisten und Kriegsverbrechen begehen würden. Aber lassen sich KI-dominierte Armeen überhaupt noch unter kontrollierter Kommandogewalt führen? Sollen Roboter-Soldaten, die mit Selbstbewusstsein ausgestattet sind, künftig Schicksal spielen? Wenn sie selbst bestimmen und entscheiden, wie, wann, wo, mit welcher Art von Gewalt sie sich Ziele aussuchen und diese bekämpfen; wer garantiert uns, dass sie nicht anfangen, ihren eigenen Krieg zu führen? Wer trägt dann die Verantwortung? Kann man sie überhaupt noch führen, wenn sie sich ihrer selbst zunehmend bewusst werden? Wenden sie sich dann nicht plötzlich, scheinbar vollkommen unvermittelt, gegen uns selbst, die wir sie führen wollen?
Kann uns hier Clausewitz weiterhelfen? Passt Clausewitz mit seinem Begriffsgebäude noch in die Welt der fliegenden, marschierenden, schwimmenden, spionierenden und eventuell marodierenden Kampfroboter? Unterliegen die Roboter-Soldaten noch dem Zugriff der Politik oder beginnen sie plötzlich ihre eigene Politik und entfernen sich von der ursprünglichen politischen Zwecksetzung der sie in Szene gesetzt habenden Politik?
Hier kann es sich lohnen, auf die clausewitzsche Begriffsscheidung zwischen wirklichem Krieg und absolutem beziehungsweise abstraktem Krieg zurückzukommen. Unter dem wirklichen Krieg verstand Clausewitz den Krieg, wie er sich mit all seinen Wandlungen, Tendenzen und Erscheinungen aus dem politischen Verkehr zwischen den Staaten ergibt. Heute könnte man hinzusetzen, wie er sich zwischen den Regionen, Glaubensgebieten, Glaubensanhängern und latenten Konfliktszenarien herausbildet. Es ist der Krieg in seinem realen Dasein.
Als absoluten Krieg bezeichnete er den Krieg, wo er ganz Gewalt, ganz tosendes Element der Feindschaft und Vernichtung ist, wo er durch keinerlei Gegengewichte gehemmt wird. Zwar verdeutlicht Clausewitz, dass es sich bei dieser natürlichen Tendenz des Krieges zum Absoluten um die philosophische, die eigentlich logische Tendenz und nicht um die wirklich im Konflikt begriffenen Kräfte handelt. Aber mit Verweis auf die durch die KI dominierten künftig gedachten Kriege gebe ich mit dem Kriegsphilosophen zu bedenken: Der entseelt gedachte Krieg der Roboter, Drohnen und autonomen Waffen hätte die Tendenz zum „Äußersten“, das heißt der Eskalation der Gewalt bis zur absoluten Vernichtung als Möglichkeit an oder in sich. Und hier, auf dieser Stufe seiner Entwicklung, hat er die Tendenz an sich, der Politik, deren Fortsetzung er anfangs war, als handhabbares, kalkulierbares, führbares und gestaltbares Instrument zu entgleiten. Und nicht nur das. Der bewaffnete Kampf, die autonomen Waffen, könnten sich eben gegen die politischen Akteure selbst wenden und sich von diesen emanzipieren. Und genau diese, an Clausewitz anlehnenden Gedanken, sollten uns Mahnung sein, derartige Kriege erst gar nicht zu beginnen, sondern nach Regularien der Vernunft zur Konfliktlösung zu suchen. Insofern könnte uns Clausewitz im neuen Zeitalter des Krieges, welches am Horizont aufdämmert, mahnen und dazu anregen, bei allen möglichen Konflikten stets den schnellstmöglichen Frieden anzustreben, denn der Frieden ist das Meisterstück der Vernunft.
Berliner Zeitung, 15.11.2021. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Dr. sc. Andrée Türpe, Jahrgang ’49, 1970 bis 1975 Philosophiestudium an der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB), anschließend Lehr- und Forschungstätigkeit. Gründungsmitglied und Direktor des Instituts für Friedens-und Konfliktforschung an der HUB bis zu dessen Schließung durch Senatsentscheidung. 2017 wurde Türpe mit dem Clausewitz-Preis der Stadt Burg ausgezeichnet. 2020 erschien sein Buch „Der vernachlässigte General? Das Clausewitz-Bild in der DDR“ (Christoph Links Verlag).
Schlagwörter: Andrée Türpe, Bundeswehr, Carl von Clausewitz, Frieden, KI, Krieg, Roboter