24. Jahrgang | Nummer 23 | 8. November 2021

Louise Stomps, der Mensch und seine Befindlichkeit

von Klaus Hammer

Wenn man den Ausstellungsraum der Louise-Stomps-Retrospektive in der Berlinischen Galerie betritt, bietet sich ein einzigartiges Erlebnis: Mehr als 90 Skulpturen in einer Vielfalt von Steinen, Hölzern, Bronzen, dicht gedrängt, in unterschiedlicher Größe, sowohl Kleinplastiken, die aber von ihrer Struktur her fast monumental wirken, menschengroße figurative Körper als auch hoch aufragende abstrakte Figurationen – je größer die Skulpturen, um so archaischer werden sie. Es sind Arbeiten aus allen Schaffensphasen der Bildhauerin, zwischen den 1920er und den1980er Jahren: Liegende, Sitzende, Hockende, Kniende, Kauernde, Einsame, Leidende, Klagende, Trauernde, Nachdenkende, Furchtsame, Mahnende, Gebeugte, Schreiende, Ruhende, Sich-Reckende und Streckende, Sich-Behauptende, Sich-Umarmende, ihr Kind Schützende, die Verschmelzung zweier Körper. Zeitlose Figuren, Figuren der Mythologie und der Fabelwelt, Symbolfiguren, mitunter sind es nur Gestaltzeichen, anthropomorphe, vegetabile und abstrakte Formen. Eine Ansammlung von leidenden, verlassenen, in die Innerlichkeit zurückgezogenen, in unheilvoller Stille erstarrten, schutzbedürftigen, aber auch kreatürlich aufbegehrenden, sich selbst vergewissernden und behauptenden, mahnenden Existenzen – zu einem offenen Protest und direkter Anklage gelangen sie nicht. Das Thema, das sie alle verbindet, ist der Mensch und seine Befindlichkeit.

Der Verein „Das Verborgene Museum“, der Werke von Künstlerinnen der Vergessenheit entreißen und sie ins öffentliche Bewusstsein heben will, zeigt diese erste, so außergewöhnliche Retrospektive in der Berlinischen Galerie, die selbst wichtige Werke dieser Bildhauerin besitzt. Louise Stomps, 1900 in Berlin geboren, gehört zu den bedeutendsten Bildhauerinnen der klassischen Moderne, die allmählich die figurative Form bis zur äußersten Reduzierung auflöst und nur noch Chiffrenhaftes gestaltet. Doch die menschliche Figur bleibt immer ihr Ausgangspunkt.

1947 bekundete sie: „Es sind Linie, Form, Ausdruck – gefangen im menschlichen Urbild –, mit denen ich zu bilden suche, was ich zu sagen habe!“. Louise Stomps strebt nach verhaltenen Bewegungen und fließenden Formen, belässt aber ihre Stein- und Holz-Skulpturen im Status eines kreatürlichen Werdens. Abstraktion hat sie als Läuterung der Themen von persönlichen Bezügen ins Zeitlose und als strenge Konzentration auf ausgewählte, überindividuelle Inhalte verstanden.

Mit 27 Jahren – sie hatte zwei Töchter aufgezogen und ihre Ehe gelöst – wandte sich Louise Stomps der Bildhauerei zu, studierte bei Johannes Röttger und Milly Steger. Erste Erfolge wurden 1933 durch das NS-System unterbrochen, sie entschied sich für inneren Widerstand und konnte erst nach 1945 ihre künstlerische Entwicklung fortsetzen. Der größere Teil ihres Frühwerkes war 1943 durch Bombenangriffe vernichtet worden. Ihre Figuren wurden Zeugen des Leides, der Verzweiflung und des Widerstehens: „Die Scheue“ (1946, Granit), starr aufgerichtet, das Gesicht zur Seite gewendet, die poröse Oberfläche signalisiert Abwehr; die „Nachdenkende“ (1946/47, Marmor), sitzend, in Blockform, die Beine an den Körper gezogen, den Kopf in die zu Fäusten geballten Hände vergraben, an den rumänisch-französischen Bildhauer Constantin Brancusi erinnernd, nur dass dieser durch die Klarheit von Form und Oberfläche besticht, während Stomps Gefühle von innen aufschließt ; „Hiob“ (1947, Eiche, von Narben und Rissen durchzogen), lebensgroß, in zeitlosem Schmerz und Erschrecken, er hat die Arme nach oben geworfen und die Hände an die Ohren gepresst, wie um sich zu schützen vor einer ruinösen Nachkriegswelt; die „Müde“ (Marmor), erschöpft zusammengesunken, oder der „Fremde“ (Granit, beide 1947) in unsäglicher Einsamkeit. Seit Mitte der 50er Jahre kommt auch die plastische Hohlform in ihren Skulpturen vor. Louise Stomps verzichtet auf raumgreifende Bewegungen und exaltierte Körperdrehungen. In ihrer Abgeschlossenheit und Statuarik wirken sie aus dem Innern bewegt.

Hatte sie 1951 den Berliner Kunstpreis erhalten, so wurde sie ein Jahr später beim international ausgeschriebenen Wettbewerb zum „Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen“ für ihren Beitrag ausgezeichnet. Diesen Denkmalsentwurf greift die „Trauernde“ (1952, Eiche) auf. Die weich gerundeten, organisch auf- und abschwellenden Formen lassen an natürliche Wachstumsprozesse denken. Die Wandlungsfähigkeit des in verschiedenster Gestalt erscheinenden, ununterbrochen fließenden Lebensstromes lässt sich auch in späteren Skulpturen nachweisen. Denn seit den 50er Jahren wird ihr bevorzugtes Material nicht mehr der Stein, sondern das Holz. Anstelle des Naturvorbilds werden Wuchs, Proportion und Beschaffenheit des gefundenen Stammes, die verzweigten Verschlingungen und die Maserung des Holzes dominant. Aber es bleiben die organische, fließende Linie, der Rhythmus der Volumina.

1960 zog Louise Stomps nach Oberbayern, unweit Wasserburg am Inn, und richtete sich in der Kumpfmühle, einer alten Wassermühle, ihr Atelier ein. Nun arbeitete sie fast ausschließlich mit Hölzern der Umgebung, über drei Meter hohe, schlanke Skulpturen entstanden: „Einsamer“ (Bronze), „Asket“ (1963, Föhre), „Pilger“ (1966, Bronze), Alberto Giacomettis fadendünnen Körpern mit ihren riesengroßen Füßen vergleichbar, nur dass den Schweizer Bildhauer nicht das Volumen und die Ausformung einzelner Partien interessierten, sondern er reduzierte sie auf ihre entfernte Erscheinung, auf ihre Haltung und Bewegung; „Sklave“ (1965, Ahorn), zu Boden geworfen, die Arme aufgestützt, die Hände in Verzweiflung vor den Kopf gehalten. Sie wolle die im Material verborgene Form freilegen, sagt Louise Stomps. Dabei spielt das Unvorhersehbare, der Zufall eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem Schaffen. In dem Moritzburger Holzbildhauer Hans Georg Anniès hätte sie ein Pendant gefunden, aber beide kannten einander nicht.

1980 entstand, 3,20 Meter groß, „Gilgamesch“ (Bronze), der – der Sage nach teils Mensch, teils Gott – auf der Suche nach der Unsterblichkeit erkennen muss, dass Leben und Sterben Teil der menschlichen Natur sind. In Todesfurcht ist der stelenartige Körper leicht nach hinten geneigt, hier wird wieder eine Rückkehr zum Figürlichen erkennbar. Obwohl Stomps doch bekannte, dass sich seelischer Ausdruck viel stärker in der Abstraktion als in der Figuration vermitteln ließe.

Mit ihrem Motorrad unternahm sie Reisen, vor allem nach Italien. Und bei einem Motorradunfall ist sie auch 1988 – mit 87 Jahren – ums Leben gekommen. Als ihr Neffe Martin Meggle nach dem Abitur den Wunsch äußerte, auch Bildhauer zu werden, hatte sie ihm widerwillig ein Stück Lindenholz und Werkzeuge in die Hand gegeben und ihm eingeschärft: „Aber untersteh dich, meine Arbeit nachzuahmen! Du musst deinen Zugang zum künstlerischen Schaffen finden, deinen eigenen Stil.“

Louise Stomps: Natur Gestalten 1928-1988 – Skulpturen und Zeichnungen. Das Verborgene Museum zu Gast in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, 10969 Berlin, Mi–Mo 10–18 Uhr, Di geschlossen, bis 17. Januar 2022. Katalog (Hirmer Verlag) 29,00 Euro.